Theorie
und Geschichte der Parodie / Teil II
von Theodor
Verweyen
Inhaltsverzeichnis:
I.
Einführung und Begründung des Vorlesungsgegenstandes
II.
Begriffsgeschichten und Begriff:
1. „Parodie”: Geschichte der Wortverwendung
II.
Begriffsgeschichten und Begriff:
2. „Kontrafaktur”: Terminologische
Erneuerung eines Begriffs der Literaturgeschichte
II.
Begriffsgeschichten und Begriff:
3. Terminologische Entscheidungen
zu „Parodie” und „Kontrafaktur”
II.
Begriffsgeschichten und Begriff:
4. Parodie und Urheberrecht
III.
Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer
Zeit‘
III.
Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer
Zeit‘ / 1. Die pseudo-homerische „Batrachomyomachia” als Beispiel hellenistischer
Epos-Parodie
III.
Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer
Zeit‘ / 2. Die Parodie im Mittelalter: am Beispiel parodistischer Verarbeitungen
in Heinrich Wittenwilers „Der Ring”
III.
Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer
Zeit‘ / 3. „Die Dunkelmännerbriefe” („Epistolae obscurorum virorum”):
ein Beispiel humanistischer Satire und Parodie
III.
Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer
Zeit‘ / 4. Parodie und Travestie im barocken Roman: Grimmelshausens „Simplicissimus
Teutsch”
IV.
Geschichte der neueren deutschen Parodie
IV.
Geschichte der neueren deutschen Parodie:
1. Friedrich Nicolai: „Eyn feyner
kleyner Almanach” - Parodie aus dem Geist der Aufklärung
IV.
Geschichte der neueren deutschen Parodie:
2. Die Parodie als Klassik-kritisches
Mittel: am Beispiel einer Schiller-Parodie A.W. Schlegels aus der Zeit
um 1800
IV.
Geschichte der neueren deutschen Parodie:
3. Parodistische Literaturkritik im
19. und 20. Jahrhundert: von Ludwig Eichrodt bis Eckhard Henscheid
Literaturhinweise
Lenore
fuhr ums Morgenrot
Die Parodie-Sammlung der Erlanger
Liste.
II.
Begriffsgeschichten und Begriff
1. „Parodie”: Geschichte der Wortverwendung
a) Vorbemerkungen
Dazu möchte ich vorweg einige
Hinweise geben, die wir alle miteinander in Zukunft beherzigen sollten.
Die Erläuterung betrifft die doppelten Anführungszeichen bei
„Parodie” im Titel. Diese können ja eine sehr unterschiedliche Funktion
haben: z. B. daß das durch sie Markierte als Zitat kenntlich, als
Verwendung fremder Rede erkennbar bleiben soll; dabei kann das mit dieser
Markierung Gekennzeichnete in zustimmender oder distanzierender Absicht
angeführt sein. Den doppelten Anführungszeichen kann aber auch
eine Funktion zukommen, die auf wissenschaftssprachlichen Vereinbarungen
insbesondere der sprachanalytischen Philosophie beruht. Und auf diese Konvention
beziehen wir uns hier bei der Verwendung der doppelten Anführungszeichen
(oder auch bei unterlassener Verwendung im Zusammenhang mit Ausdrücken).
Spreche ich danach im Rahmen dieser
Vorlesung über die Parodie oder die Travestie oder die Kontrafaktur,
dann spreche ich zu Ihnen entweder konkret über einzelne Texte, die
eine Parodie oder Travestie oder eine Kontrafaktur zu sein scheinen, oder
konkret über ganze Gruppen von Texten, die ich als Parodien oder als
Travestien oder als Kontrafakturen glaube voneinander unterscheiden und
untereinander zusammenfassen zu dürfen. Mit anderen Worten: ich bewege
mich bei solchen Unterscheidungen und Ordnungsversuchen auf der Objekt-Ebene.
Welche Relevanz solche Unterscheidungen und Ordnungsversuche bis in die
konkrete literarische Kommunikation über Texte hinein haben, wird
sich dann später zeigen.
Spreche ich demgegenüber über
„Parodie” oder über „Travestie” oder über „Kontrafaktur”, dann
spreche ich zu Ihnen über Begriffe oder zunächst genauer über
Ausdrücke: und zwar über die Etymologie, d. h. die Entstehung
des Wortes „Parodie” (etc.), über die Verwendung des Wortes „Parodie”
in bestimmten geschichtlichen Zusammenhängen synchroner Art, ferner
über die diachrone Geschichte der Verwendung des Wortes, über
den aktuellen Wortgebrauch und gelegentlich, in der Literaturwissenschaft,
eben über die Genauigkeit, die Brauchbarkeit, den Sinn definierter
Ausdrücke, die als definierte dann „Begriffe” oder „Termini” genannt
werden. Mit anderen Worten: ich bewege mich bei solchen Begriffsgeschichten
oder zunächst genauer, bei solchen wortverwendungsgeschichtlichen
Beschreibungen, auf der Meta-Ebene.
Welchen Sinn es macht, sich gelegentlich
von der Objekt-Ebene auf die Meta-Ebene zu begeben, möchte ich hier
nun nicht abstrakt erörtern. Das wird sich hoffentlich im Laufe der
weiteren Vorlesungsstunden ergeben, wobei die Kapitelüberschrift „Begriffsgeschichten
und Begriff” freilich anzeigen soll, daß ich entschieden der Auffassung
bin, Literaturwissenschaft sei wie jede andere wissenschaftliche Disziplin
dazu verpflichtet, über ihr Reden und dann eben auch über ihre
Wortgebräuche argumentativ und begründet Auskunft zu geben, sich
also auch auf der Meta-Eben zu bewegen.
Ich möchte hier noch einen wissenschaftssprachlichen
Sonderfall, der in unseren Zusammenhang gehört, kurz ergänzen.
Spreche ich nämlich von ‚Parodie’ oder von ‚Travestie’ oder von ‚Kontrafaktur’,
dann zeige ich durch eine solche Markierung des jeweiligen Ausdrucks mit
einfachen Anführungszeichen an, daß da eine gewisse Vorbehaltlichkeit,
Unbestimmtheit, Unsicherheit, Problematik zwischen Objekt- und Bezeichnungsebene
vorliegt. Die Markierung mit einfachen Anführungszeichen soll in solchem
Zusammenhang darauf aufmerksam machen, daß das Wort ‚Parodie’ (etc.)
noch uneigentlich verwendet, noch vorkritisch, d. h. als noch nicht eingeführter
Ausdruck gebraucht wird.
b) Zur Geschichte der Wortverwendung
von „Parodie”: illustriert mit zwei Textbeispielen
Wortverwendungsgeschichtliche Beschreibungen
haben als Hintergrund selbstverständlich jene etwas abstrakteren wissenschaftssprachlichen
Probleme; sie bilden, wenn auch nicht immer ausdrücklich, eine der
Leitlinien der Beschreibung, bei denen ich zunächst einmal mit zwei
Textbeispielen, also von der Objekt-Ebene aus, operiere. Im Zusammenhang
mit der Parodie und ‚verwandten’ Textsorten müssen dies notgedrungen
Beispielpaare sein, da ja immer der intertextuelle Bezug von Vorlage und
Verarbeitung gegeben sein muß.
Das erste Beispiel: Am 15. November
1896 erschien in der literarischen Halbmonatsschrift „Wiener Rundschau”
ein Gedicht von Hugo von Hofmannsthal, das bei späteren Veröffentlichungen
den Titel „Lebenslied” erhielt und bei seiner ersten Publikation in jener
Literaturzeitung eine unglaubliche Resonanz fand. Schon anderthalb Monate
nach Erscheinen des Gedichtes berichtete Karl Kraus, einer der scharfsichtigsten
Beobachter seiner Zeit, in einem „Wiener Brief” an die „Breslauer Zeitung”
(es ist der 3. Januar 1897):1
„Eine Sensation
[...] seltener Art ist uns vor Jahreswechsel beschert worden. Die Ansicht,
ein modernes Lesepublikum bringe der Lyrik kein Interesse entgegen, wurde
in sämtlichen Wiener Gesellschaftszirkeln mit einem Schlage gründlich
desavouiert. Ein Gedicht hat die ganze Stadt in fieberhafte Aufregung versetzt
[...]. Eine Zeit lang mochte man in ein x-beliebiges Kaffeehaus, in was
immer für einen Salon eintreten, hier versuchten bei fliegendem Tee
mondäne Damen eine Interpretation der dunklen Verse, dort war man
sicher, eine Gesellschaft anzutreffen, die, um den runden Tisch versammelt,
eben mit dem Buchstabieren der ersten Strophe beschäftigt war [...].”
Über diese Hinweise hinaus bemerkt
Karl Kraus zudem völlig zutreffend, daß sich die literarische
Publizität eines Textes nicht selten an der Häufigkeit seiner
parodistischen Verarbeitung ablesen lasse:
„Von dem heiteren
Aufsehen, welches die Verse des jungen Dichters hervorgerufen hatten, mußten
die Tagesblätter in ihrem lokalen Teile Notiz nehmen, und die Papierkörbe
der Redaktionen konnten die Unzahl der Parodien nicht fassen, die jede
in ihrer Weise den Zusammenhang zwischen dem Erben, den drei Tieren und
dem Salböl der verstorbenen alten Frau zu erklären bemüht
war.”
Spätestens an dieser Stelle ist
zunächst einmal das Gedicht, das „Lebenslied” des fast 23jährigen
Hofmannsthal vorzutragen. Dabei muß ich Sie bitten, die Erinnerung
an die Kraussche Beschreibung der Wiener Gesellschaft vor der Jahrhundertwende
gegenwärtig zu halten; so bleibt das dunkle Gedicht doch in seiner
Bezüglichkeit zur Fin de siècle-Gesellschaft erkennbar und
so wird auch bei aller Dunkelheit des Sprechens das Exotische und das Jugendstilhaft-Morbide
ebenso wie das Erlesene und die in der Geste des Memento mori beschworene
Lebensgier der Epoche sichtbar:2
Lebenslied
Den Erben laß
verschwenden
An Adler, Lamm
und Pfau
Das Salböl
aus den Händen
Der toten alten
Frau!
Die Toten, die
entgleiten,
Die Wipfel in
dem Weiten –
Ihm sind sie
wie das Schreiten
Der Tänzerinnen
wert!
Er geht wie den
kein Walten
Vom Rücken
her bedroht.
Er lächelt,
wenn die Falten
Des Lebens flüstern:
Tod!
Ihm bietet jede
Stelle
Geheimnisvoll
die Schwelle;
Es gibt sich
jeder Welle
Der Heimatlose
hin.
Der Schwarm von
wilden Bienen
Nimmt seine
Seele mit;
Das Singen von
Delphinen
Beflügelt
seinen Schritt:
Ihn tragen alle
Erden
Mit mächtigen
Gebärden.
Der Flüsse
Dunkelwerden
Begrenzt den
Hirtentag!
Das Salböl
aus den Händen
Der toten alten
Frau
Laß lächelnd
ihn verschwenden
An Adler, Lamm
und Pfau:
Er lächelt
der Gefährten. –
Die schwebend
unbeschwerten
Abgründe
und die Gärten
Des Lebens tragen
ihn.
Auf dieses Gedicht bezog sich, wie
Karl Kraus schreibt, „die Unzahl der Parodien”, die „die Papierkörbe
der Redaktionen ... nicht fassen” konnten. Und eine dieser Verarbeitungen
hat er in seinem „Brief” selber mitgeteilt und somit auch für die
Nachwelt erhalten:
Den Adler laß
verschwenden
An Erben, Lamm
und Frau
Das Salböl
aus den Händen
Des toten alten
Pfau ...3
Karl Kraus, der wie keiner zu seiner
Zeit Verfahren der Sprachverwendung und literarischen Textbildung durchsichtig
zu machen verstand, hat bei diesem Text völlig richtig erkannt, daß
dessen Anliegen sei, „die Unverständlichkeiten zu permutieren”: eine
ungemein genaue Beobachtung („permutieren”!). Dies ‚Permutieren’ geschah
hier nun freilich nicht in der Absicht (wie es etwa in der Konkreten Poesie
geschah), das Sprachproblem als solches vorzuführen, sondern um einen
komischen Effekt zu erzielen, bei dem der abgründige Tief-Sinn der
Vorlage in vordergründigen Un-Sinn verkehrt wird. Die Verarbeitung
richtet sich mit bestimmten Mitteln komisierender Herabstimmung gegen die
Vorlage und deren Anspruch, eine Deutung des Lebens anzubieten (daher „Lebenslied”).
Es scheint nur konsequent, daß Karl Kraus in einer solchen, auf formaler
wie inhaltlicher Ebene operierenden antithematischen Verarbeitung eine
Parodie sieht und hier auch tatsächlich von „Parodie” spricht.
Dies wird gewiß noch unterstrichen
durch eine andere zur „Unzahl der Parodien” gehörende ‚Nachahmung’
des „Lebensliedes”; zu deren besserem Verständnis gebe ich zuvor eine
Erinnerung des Wiener Autors Felix Salten wieder:
„Ein sehr gutmütiger
Mann, Bankier und literarisierender Dilettant, kam ins Kaffeehaus, ließ
sich stöhnend in einen Sessel fallen und klagte: Ich kann das nicht
mehr ertragen. Überall soll ich erklären, was das zu bedeuten
hat, wenn der Erbe das Salböl aus den Händen der toten alten
Frau an Adler, Lamm und Pfau verschwendet. Wie soll ich das erklären?
Ich geb’ mir jede Mühe – und ich versteh’ den Blödsinn ja selber
nicht.”4
Dieses Stückchen Kontext mag dazu
dienen, die folgende Verarbeitung etwas verständlicher zu machen –
eine Verarbeitung übrigens, die auf einem Karnevalsfest einer studentischen
Verbindung in Wien 1897 vorgetragen wurde und die allein schon durch diesen
speziellen Situationskontext eher Ungutes für Hofmannsthals dunkles
„Lebenslied” ahnen läßt:
Du willst das
nicht begreifen?
Nun wohl, so
hör mich an:
Auf schäbiges
Salböl pfeifen
Ein jeder Erbe
kann;
Die alte Frau,
die kränkt’s nicht,
Denn die ist
tot und still,
Und schließlich
kann man salben
Und ölen,
wen man will!5
Die „antithematische” Behandlung dieses
Textes erfolgt in doppelter Richtung. In der einen liegt die Empfehlung,
die Verse der Vorlage von der heiteren Seite zu nehmen und ihren hohen
Anspruch ins Leere laufen zu lassen. In der anderen Richtung liegt eine
bestimmte und besonders wirksame Weise der Konkretisierung vor, nämlich
die Überführung des vielfältig deutbaren Tief-Sinns der
Vorlage in den einen eindeutigen Sinn der erotisch-sexuellen Sphäre
des Nachfolge-Textes. Dabei sollte ich hinzufügen, daß gerade
die Schlußverse der Verarbeitung – für den Kenner der literarischen
Pornographie um 1900 in Wien besteht daran kein Zweifel – den Kontakt zur
sprachlichen Schicht der in jenen Jahren erschienenen fiktiven Lebensbeichte
der Mutzenbacher (vielleicht von Felix Salten) herstellen sollen. Der in
doppelter Weise erzielte herabstimmende Effekt läßt eigentlich
mit guten Gründen die Zuordnung eines solchen Textes zur Textsorte
der Parodie zu. (Eine solche Zuordnung hat z. B. der Verfasser und Arrangeur
Hans E. Goldschmidt des Buches „Quer sacrum” [statt des Buchtitels „Ver
sacrum”] vorgenommen.
Das zweite Beispiel: Dieses Beispiel
– ein Gedicht von Martin Opitz und seine „Nachöhmungen” durch eine
Vielzahl literarischer Zeitgenossen – führt in eine ganz andere Epoche
des literarischen Selbstverständnisses und der literarischen Praxis.
Dabei ist es mit der Bezeichnung „Barock” hier nicht getan, um der literarhistorischen
Komplexität dieser Zeit überhaupt gerecht zu werden. Neuere Forschungen
internationalen und interdisziplinären Zuschnitts haben vielmehr zeigen
können, daß die Literatur des Barock in Traditionen steht, deren
Wurzeln in die Antike ebenso wie in die byzantinische Zeit zurückreichen.
Ein besonders kennzeichnendes Merkmal dieser Traditionen und der in ihnen
wurzelnden Barockliteratur ist dabei der ‚Glaube’ an die „auctoritas”,
an den Vorbildcharakter der literarischen Mustertexte und Textmuster „der
Alten”. Dies ist zu berücksichtigen, wenn man die Tatsache erklären
will, daß z. B. ein Gedicht des Martin Opitz zum Gegenstand unglaublich
vielfacher und vielfältiger ‚Nachahmungen’ wird. Zunächst wieder
das Original, hier von Martin Opitz6:
Ode.
Ich empfinde
fast ein grawen
Das ich / Plato
/ für vnd für
Bin gesessen
vber dir;
Es ist zeit
hienauß zue schawen /
Vnd sich bey
den frischen quellen
In dem grünen
zue ergehn /
Wo die schönen
Blumen stehn,
Vnd die Fischer
netze stellen.
Worzue dienet
das studieren /
Als zue lauter
vngemach?
Vnter dessen
laufft die Bach
Vnsers lebens
das wir führen /
Ehe wir es innen
werden /
Auff jhr letztes
ende hin;
Dann kömpt
(ohne geist vnd sinn)
Dieses alles
in die erden.
Hola / Junger
/ geh‘ vnd frage
Wo der beste
trunck mag sein;
Nim den Krug
/ vnd fülle Wein.
Alles trawren
leidt vnd klage /
Wie wir Menschen
täglich haben
Eh' vns Clotho
fortgerafft
Wil ich in den
süssen safft
Den die traube
giebt vergraben.
Kauffe gleichfals
auch melonen /
Vnd vergiß
des Zuckers nicht;
Schawe nur das
nichts gebricht.
Jener mag der
heller schonen /
Der bey seinem
Gold vnd Schätzen
Tolle sich zue
krencken pflegt
Vnd nicht satt
zue bette legt;
Ich wil weil
ich kan mich letzen.
Bitte meine guete
Brüder
Auff die music
vnd ein glaß
Nichts schickt
/ dünckt mich / nicht sich baß
Als guet tranck
vnd guete Lieder.
Laß ich
gleich nicht viel zue erben /
Ey so hab‘ ich
edlen Wein;
Wil mit andern
lustig sein /
Muß ich
gleich alleine sterben.
Dieses Gedicht steht in einer Schrift,
die ihrem Verfasser – es ist Martin Opitz selbst – nicht ohne Grund schon
im 17. und selbst noch im 18. Jahrhundert, hier durch den Gottsched-Kreis,
den Ruhmestitel „Vater der deutschen Dichtung” eingetragen hat. Bei der
Schrift handelt es sich um das „Buch von der Deutschen Poeterey”, verlegt
Breslau, erschienen Ende 1624. Sie begründete nicht nur eine eigene
Gattungsreihe: nämlich die Reihe ‚Poetik’, sondern legte vielmehr
noch das Fundament für eine Sprach- und insbesondere Literaturreform,
deren Bedeutung für die Begründung der deutschen Sprache als
Literatursprache nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Bereits durch
den speziellen wirkungs- und rezeptionsgeschichtlich bedingten Kontext
der „Poetik” konnte das Gedicht „Ich empfinde fast ein grawen” eines gewissen
Mitruhms sicher sein, auch einer gewissen Vorbildhaftigkeit, die es für
die von der „imitatio veterum” bestimmte literarische Nachahmungspraxis
nachdrücklich interessant machte. Hinzu kommt überdies die gattungsmäßige
Zuordnung des Gedichtes: zum einen zur Gattung der „Lyrica oder getichte
die man zur Music sonderlich gebrauchen kan”, also zur Lieddichtung, und
darin zudem zur Gattung der Ode; speziell der anakreontischen Ode. Ich
lese den entsprechenden Abschnitt aus Opitz’ „Poetik” vor:7
„Die Lyrica oder
getichte die man zur Music sonderlich gebrauchen kan / erfodern zueförderst
ein freyes lustiges gemüte / vnd wollen mit schönen sprüchen
vnnd lehren häuffig geziehret sein: wieder der andern Carminum gebrauch
/ da man sonderliche masse wegen der sententze halten muß; damit
nicht der gantze Cörper vnserer rede nur lauter augen zue haben scheine
/ weil er auch der andern glieder nicht entberen kan. Ihren inhalt betreffendt
/ saget Horatius [...].
Er wil so viel
zue verstehen geben / das sie alles was in ein kurtz getichte kan gebracht
werden beschreiben können; buhlerey / täntze / banckete / schöne
Menscher / Gärte / Weinberge / lob der mässigkeit / nichtigkeit
des todes / etc. Sonderlich aber vermahnung zue der fröligkeit: welchen
inhalts ich meiner Oden eine / zue beschliessung dieses Capitels / setzen
wil”. Es folgt die „Ode”.
Was hier Martin Opitz beschreibt, ist
Teil eines Lebens- und Weltentwurfs heiterer Geselligkeit und darin zugleich
Teil eines aus der Antike stammenden Gegenentwurfs gegenüber dem,
wie Günter Grass im „Treffen in Telgte” formulierte, „Jammertaligen”
der Barockepoche. Die Vorbildhaftigkeit des anakreontischen Trink- und
Lebensliedes, das den geistigen Mühen des Philosophierens (Leitwort
„Plato”) abschwört, wird genau durch diesen besonders in bestimmten
frömmigkeitsgeschichtlichen Kontexten provokanten Grundzug nochmals
eigens erhöht und gefördert. Schließlich – und drittens
– ist Opitz, dem „nachahmenden Schöpfer” so vieler Textmuster für
den deutschen Literaturraum (wie beispielsweise des deutschen Prototyps
für das Schlesische Kunstdrama, den Höfisch-historischen Roman,
die Prosaekloge, für den petrarkistischen Frauenpreis, das Opernlibretto,
die Poetik usw.), auch in diesem Fall ein Mustertext der anakreontischen
Odendichtung gelungen. Die Ode „Ich empfinde fast ein grawen” ist ein Vorbildtext.
Wie wird er aufgenommen, verarbeitet; wie geht man mit ihm um?
Ich gehe jetzt zum Text von Johann
Klaj über. Dieser steht in einer ganzen Serie von sog. „Nachöhmungen”
von Gottfried Finckelthaus über Heinrich Albert und David Schirmer
bis zu Sigmund von Birken, die Erwin Rotermund – ein vorzüglicher
Kenner der Materie ‚Parodie’ – in seiner Anthologie „Gegengesänge.
Lyrische Parodien vom Mittelalter bis zur Gegenwart” zusammengetragen hat.
Das Gedicht Klajs8lautet:
Parodia Opitiana
Wir empfinden
nun ein Grauen /
daß /
0 Teutschland / für und für
Krieg gewütet
inner dir /
jetzt ist Zeit
nach Fried zu schauen /
und sich bey
den frischen Qvellen
mit dem Kunst-Gott
zu ergehn /
wo dreymal drey
Schwestern stehn
in gelehrten
Bücherstellen.
Worzu dient das
Scharmiziren
als zu lauter
Vngemach?
Vnterdeß
muß Pindus Bach
nichts als Blut
und Leichen führen.
Wann der Krieg
soll Meister werden /
geht Kunst auf
ihr Ende hin /
und wir müssen
ohne Sinn
kommen in die
Nacht der Erden.
Holla / mein
geh / Clio frage /
wo der güldne
Fried mag seyn /
lasset uns ihn
holen ein
sonder ferners
Leid und Klage.
Daß wir
Künste Freude haben /
wann der Vnfried
fortgerafft /
fort quillt
Hippocrenens Safft
und der Blutkrieg
ligt vergraben.
Fort wird Gunst
die Kunst belohnen /
daß sie
nimmer bettelt nicht!
daß Studenten
nichts gebricht
keiner keinen
Fleiß darf schonen;
Gott Apollo
wird aufsetzen
euch ein Loblied
/ wie er pflegt /
wann er sich
zu Bette legt
und wann sich
die Sternen letzen.
Himmelsöhne
/ Götterbrüder /
tuncket in das
Dintenglas /
unterschreibt
den Friedenbaß /
daß da
klingen gute Lieder.
So / so werdet
ihr ererben /
was da nimmer
gehet ein /
werdet stets
im Leben seyn /
müsset
ihr gleich zeitlich sterben.
Dreierlei läßt sich auf
Anhieb bei einem Vergleich zwischen der Vorlage von Martin Opitz und der
„Nachahmung” von Klaj im Hinblick auf das erste Textpaar von Hofmannsthals
„Lebenslied” und seiner Verarbeitung feststellen: erstens die sorgfältige
Aneignung des Mustertextes; zweitens ein Thema-Austausch ohne verzerrende
Folgen für den Mustertext; drittens das Fehlen jeglicher gegen die
Vorlage gerichteter komischer Züge – im Unterschied zu den Verarbeitungen
des „Lebensliedes” von Hofmannsthal. Der Opitzsche Vorbildtext wird aufgenommen
und verarbeitet, aber man springt nicht mit ihm um; er wird vielmehr als
Vorbildtext anerkannt – deshalb „parodia Opitiana”: was soviel heißt
wie ‚Nachbildung in der Manier des Opitz’! Die Annahme einer gegen die
Vorlage gerichteten komischen Intention liegt bei Klajs Text schon wegen
des fundierenden Prinzips der „auctoritas” in der zeitgenössischen
„imitatio veterum” nicht nahe. Sie ist auch aus einem anderen Grund nicht
anzunehmen: Klajs „Parodia Opitiana” ist Teil einer 1650 erschienenen Schrift,
deren ‚barocker’ Titel lautet:9

Diese Friedensdichtung Klajs ist wiederum
nur Teil einer Reihe von Klajschen Friedensdichtungen, die ihrerseits nur
Teil der Nürnberger Friedensfeierlichkeiten von 1649/50 waren, die
anläßlich des Friedenskongresses in Nürnberg nach Abschluß
der Verhandlungen in Münster und Osnabrück veranstaltet worden
sind. Mit anderen Worten: Wie die „Parodia Opitiana” Klajs selbst sprechen
auch alle Kontexte dagegen, hier einen Textverarbeitungstyp anzunehmen,
der dem Verarbeitungstyp der „Lebenslied”-Permutationen gleichkäme.
Wir sind also beim Problem der Bezeichnung und somit der begrifflichen
Differenzierung und Unterscheidung.
c) Zur Geschichte der Wortverwendung
von „Parodie”: begriffsgeschichtlich erweitert
An zwei Textbeispielen aus verschiedenen
Zeiträumen, nämlich an den komisierenden Verarbeitungen des „Lebensliedes”
von Hofmannsthal und an den seriösen Nachahmungen einer anakreontischen
Ode von Opitz, habe ich zu demonstrieren versucht, daß der Ausdruck
„Parodie” historisch offenkundig sehr Unterschiedliches bezeichnen kann:
nämlich im Falle der „Lebenslied”-Verarbeitungen die ‚antithematische’
Behandlung der Vorlage unter Zuhilfenahme von Komik, im Falle der „Parodia
Opitiana” Johann Klajs das Zugrundelegen des Vorbildtextes von M. Opitz
zum Zweck der Verstärkung der Botschaft des eigenen Textes. Beide
Textfälle wurden und werden noch immer literarhistorisch unter den
Ausdruck „Parodie” subsumiert. Geht nun diese Beobachtung einer konträren,
ja kontradiktorischen, ausschließenden Funktionsdifferenz über
die beiden erörterten Textfälle hinaus, müßte man
von einer wissenschaftssprachlich und fachterminologisch wohl unbefriedigenden
Situation reden. Entsprechende Studien zur Wortgeschichte und vor allem
zur Geschichte der Verwendung des Wortes „Parodie” haben dabei interessante
Resultate erbracht.
Erstens: Das altgriechische
Kompositum parodia besteht aus dem präpositionalen Bestandteil
para
und dem nominalen Bestandteil ode. Es läßt sich schlicht
übersetzen mit „Neben”- oder „Gegengesang”. Daß mit der Etymologie
allerdings noch nicht allzu viel gewonnen ist, hat die altertumskundliche
Parodie-Diskussion gezeigt (ich verweise auf einen entsprechenden Aufsatz
des hiesigen Gräzisten Egert Pöhlmann). Interessanter ist dann
aber schon der Hinweis auf die unterschiedliche Bedeutung des Kompositums
„parodia”, die aus der Intension von „para” hervorgeht. Zum einen hat „para”
einen adversativen Bedeutungsinhalt („para” heißt soviel wie „wider,
entgegen”); zum andern hat „para” einen additiven Bedeutungsinhalt, bei
dem dieses präpositionale Element synonym ist mit „entsprechend,
zuzüglich
zu, nach dem Vorbild von”.
Mit dieser zweiten Bedeutung von „Parodia”
hängen, das sei schon jetzt angedeutet, noch immer zusammen die Titel
von Parodie-Sammlungen wie etwa „Nach berühmten Mustern” (Fritz Mauthner)
oder „Mit fremden Federn” (Robert Neumann), hängen zusammen die Titel
von Parodie-Anthologien wie „Nebengesänge” oder auch Einzeltitel von
Parodie-Texten wie z. B. „Nach R.M. Rilke” usw. (Gemeint ist also nicht
das zeitliche, sondern das imitative „nach”!)
Im Zusammenhang mit dem Ausdruck „Parodie”
ist die Bedeutung „para” im Sinne von „entsprechend, zuzüglich zu,
nach dem Vorbild von” vor allem in der wichtigsten Rhetorik der lateinischen
Antike, in Quintilians „Institutio oratoria”, überliefert und darin
von rezeptionsgeschichtlicher Tragweite geworden. Der Gesamtausdruck „parodia”
hat in dieser Hinsicht die Bedeutung „Imitation eines Vorbildtextes” oder
enger „Übernahme einzelner Teile einer Vorlage”. (Von hier aus ergibt
sich übrigens die Nähe des rhetorischen Begriffs von „Parodie”
zu „Zitat”.) Innerhalb dieser Grundrichtung kann der Gesamtausdruck zweierlei
bezeichnen: die „ernste Nachahmung” (die „parodia seria”) und die „komische
Nachahmung” (die „parodia iocosa”). Es dürfte klar sein, daß
die sog. „ernste Nachahmung”, die „parodia seria”, mit der uns geläufigen
adversativen Bedeutung von „Parodie” kaum etwas zu tun hat. Nun, das könnte
als Aufforderung verstanden werden, sich nicht weiter damit zu beschäftigen
– was genau der falsche Weg wäre. Ich will es zu zeigen versuchen.
Ich gehe somit über zu
Zweitens: Der spätantike,
rhetorische Begriff von „Parodie” in der additiven Bedeutung von „ernster
Nachahmung” hat in der humanistischen und späthumanistisch-barocken
Literatur die literarische Praxis nachhaltig bestimmt und darüber
hinaus zu einer ganz eigenen Poetik des Nachahmens geführt. Entscheidendes
Verbindungsglied vom antik-rhetorischen Ausdruck „Parodie” zum Ausdruck
der späthumanistisch-barocken Zeit wurde das „Parodia”-Kapitel in
der „Poetik” des Julius Caesar Scaliger von 1561; dieses begründete
und bezweckte zugleich das neulateinische Textemachen als Nachahmen etwa
in Form von „Parodiae morales”: so beispielsweise heißt eine Sammlung
solcher Nachahmungen des berühmten Zeitgenossen, Verlegers und Dichters
Henri Estienne aus dem Jahre 1575. Die Poetik dieser Art des nachahmenden
Textemachens möchte ich mit einer kleinen Stelle aus einem Kommentar
zu einer „Parodiae”-Sammlung von 1642 andeuten; darin wird die „parodia”
etwa zusammen mit der Übersetzung als ein Spezialfall der „imitatio”
verstanden. Von der speziellen Nachahmung der „parodia” heißt es
dann weiter:
Andreas Senftleben:10
„Diese Literaturgattung
pflegte früher und heute doch etwas mehr zu erfordern, nämlich
sowohl die scharfsinnige Erfindung eines anderen Stoffes als auch die anmutige
Anpassung an die erste Vorlage bis zu dem Grad, daß zwar der Stoff
gänzlich ein verschiedener ist, die Versfüße aber und die
Ausdrucksweise fast dieselbe, außer wenn etwas mit anderen Wörtern
gewissermaßen zusammen gebaut werden muß. Diese Schwierigkeit
bei der Parodie hat der sonst unbesiegte Hercules der Literatur, Julius
Scaliger selbst, eingestanden [...].”
Für den Autor, der solche „parodiae”
hervorbringt, gelten als unabdingbare Forderungen die „inventio alterius
materiae”, d. h. die scharfsinnige Erfindung eines anderen Stoffes, und
die „venusta applicatio”, d. h. die anmutige Anpassung des neuen Stoffes
an die Vorlage; von ‚antithematischer’ Behandlung mit komisierenden, Lachen
erzeugenden Mitteln ist nicht die Rede. Ich brauche angesichts dieser poetologischen
Bestimmungen für „Parodia” nur noch kurz an Johann Klajs Gedicht „Parodia
Opitiana” zu erinnern, um auf Anhieb plausibel zu machen, daß es
eine Art des „Parodia” genannten Nachahmens gegeben hat, die von großem
Gewicht für die Praxis sowohl der neulateinischen Literatur als auch
der muttersprachlich-nationalen Literaturen des 16. und besonders des 17.
Jahrhunderts gewesen ist. Aber, meine Damen und Herren, das terminologische
Problem „Parodie” wird aufgrund dieser literarhistorischen Andeutungen
des Gewichts von „Parodia” alles andere als geringer; im Gegenteil: bei
weitem noch größer!
Man muß sogar einräumen,
daß das terminologische Problem in dem Maße sich verschärft,
wie nachgewiesen werden kann, daß die additive Bedeutung von
„parodia” gegen Ende des 17. Jahrhunderts keineswegs erloschen ist. Dieser
begriffsgeschichtliche (oder genauer: wortverwendungsgeschichtliche) Sachverhalt
ist in einläßlichen Studien aufgedeckt worden. Danach hat „Parodia”
– ich wähle stets mit Absicht und gezielt hier die ‚fremde Form’ des
Wortes – in der Bedeutung von „ernster Nachahmung” durch alle nachfolgenden
Jahrhunderte hindurch bis in die Gegenwart eine gewisse Relevanz von unterschiedlicher
Tragweite behalten: beispielsweise gilt das für die Anthologien des
19. und 20. Jahrhunderts von Carl Friedrich Solbrig (1816) bis zu Erwin
Rotermund (1964) und Hans Reinhard Schatter (1968) sowie Manfred Ach bzw.
Manfred Bosch (1974); ebenso für die Begriffsbestimmungen in den vielen
Poetiken des späten 18. und gesamten 19. Jahrhunderts (also in den
Poetiken von dem Aufklärer Johann Joachim Eschenburg bis zu dem Literarhistoriker
Hermann Oesterley), darüber hinaus in Lexikon-Artikeln und literaturwissenschaftlichen
Abhandlungen von Alfred Liede bis zu Winfried Freund und Lutz Röhrich.
Drittens: Wie der „Parodie”-Begriff
im Sinne „ernster Nachahmung” stammt auch der „Parodie”-Begriff mit adversativer
Bedeutung, also im Sinne „komischer Nachahmung”, aus der Antike – allerdings
aus der frühen Antike, und zwar aus der Zeit unmittelbar nach der
griechischen Klassik. Dank der altertumswissenschaftlichen Parodie-Forschung
kann etwa folgendes gesagt werden: Seit der „Poetik” des Aristoteles gilt
die adversative Bedeutung von „Parodie” als gesichert. Unter „Parodie”
wurde zunächst die Epos-Parodie verstanden und darin die thematische
Herabstimmung eines autoritativen Vorbildtextes. Spätestens in der
Zeit des Hellenismus wandelte sich dann „parodia” von einem Gattungs- zu
einem „Stilbegriff” und umfaßte nun jede Art einer mit antithematischer
Behandlung operierenden Bezugnahme auf eine Vorlage: Nicht mehr nur das
Epos, sondern jeder mit autoritativem Geltungsanspruch auftretende Text
jeglicher Gattung und Textsorte konnte das parodistisch geschändete
Vorbild sein. Allerdings: Dieser Begriff „Parodie” wurde schon im Laufe
der Antike von dem rhetorischen Begriff „Parodie” überlagert und ging
so auf der theoriegeschichtlichen Ebene mehr oder weniger verloren. Wobei
hier freilich folgendes hinzuzufügen ist: Dieser besondere begriffsgeschichtliche
Umstand hat nicht dazu geführt, daß auch auf der Ebene der literarischen
Praxis das adversativ verstandene ‚Parodieren’ als Formmöglichkeit
aufgegeben worden sei, mit anderen Worten: Geschichtlich treten Wort und
Sache im Hinblick auf ihre Geltung in der Art einer geöffneten Schere
weit auseinander.
Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts
wird im Grunde der Ausdruck „Parodie” als ein besonderer, spezieller theoriehaltiger
Begriff wiederentdeckt: als Bezeichnung für eine spezifische Form
kritischer Textverarbeitung. Ich gebe hier nur ein Beispiel! Es stammt
aus dem „Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften”
von J.J. Eschenburg aus dem Jahre 1783:11
„Eine besondre
Art der Satire ist die Parodie, welche entweder den einzelnen Versen oder
dem ganzen Gedichte eines bekannten Dichters durch Änderung einzelner
Wörter, oder durch Anwendung derselben auf einen anderen Gegenstand,
einen veränderten SInn gibt, oder die ganze Manier eines Dichters
nachbildet, um dadurch sein Gedicht oder den Gegenstand desselben zu belachen.
Gemeiniglich wählt man dazu ernsthafte Gedichte, um sie durch die
Parodie komisch zu machen.”
In diesen Bestimmungen haben wir ein
imposantes Zeugnis für den epochemachenden Wandel in der Geschichte
des Begriffs und der Vorstellung von „Parodie”. Seither ist in der deutschen
Literaturgeschichte der Begriff „Parodie” als Bezeichnung einer spezifischen
Form kritischer Textverarbeitung präsent und zugleich als Reizwort
einsetzbar (wie die entrüsteten Äußerungen Goethes oder
Lenzens oder Börries von Münchhausens belegen). Der hier zum
Ausdruck kommende begriffsgeschichtliche Gewinn darf indes nicht darüber
hinwegtäuschen, daß dieser adversative „Parodie”-Begriff ständig
von jenem anderen, additiven „Parodie”-Begriff begleitet wird. Die Gleichzeitigkeit
sehr heterogener Parodievorstellungen hat ihre Parallele in einem Nebeneinander
sehr unterschiedlicher Formen und Muster der Textverarbeitung; ich verweise
erneut auf die „Lebenslied”-Adaptionen einerseits und die „Parodia Opitiana”
andererseits. Ein treffliches Beispiel gibt uns dafür auch eine kleine
Rezension von 1914 an die Hand. Über eine Anthologie des Germanisten
Meyer urteilt kein Geringerer als Kurt Tucholsky:
„Richard M Punkt
Meyer hat (im Verlag von Müller & Rentsch) ein Büchelchen
herausgegeben: ‚Deutsche Parodien’. O wären es doch welche!”12
Die Pointe dieser witzigen Feststellung
hat eben ihren Grund in der Tatsache, daß zwei bis heute in unterschiedlicher
Dominanz gültige Vorstellungen von „Parodie” zu solchen Sammlungen
geführt haben, in denen sich zu komisch-kritischen Verarbeitungen
(Clemens Brentanos „Es saß der Meister vom Stuhle” oder die anonymen
Verarbeitungen des Hofmannsthalschen „Lebensliedes”) eben solche Adaptionen
wie Johann Klajs „Parodia Opitiana” gesellen.
Nun, ich habe Kurt Tucholskys Pointe
nicht bloß des Lacheffektes wegen zitiert; ich wollte mit ihr zugleich
eine bestimmte Entscheidung vorbereiten. Tucholsky nutzt pointierend ja
eine Äquivokation (~ Doppelsinnigkeit) von „Parodie” aus: Damit man
ihr entgehen, also eine begriffliche Eindeutigkeit von „Parodie” herstellen
kann, wird man sich entscheiden müssen – und zwar, so der Vorschlag,
gegen den ‚Parodie’-Begriff mit einem weiten Begriffsumfang zugunsten eines
‚Parodie’-Begriffs mit einer engen Extension! Bei einer solchen Entscheidung
wäre das mißliche Problem der schon gezeigten Äquivokation
von „Parodie” vermieden. Eine solche Entscheidung wäre allerdings
auch mit der, vielleicht rücksichtslos anmutenden, Konsequenz verbunden,
viele unter dem bisherigen Stichwort „Parodie” überlieferte und auch
noch aktuelle Hervorbringungen hier abtrennen und aussondern zu müssen
– mit einer vielleicht zu rücksichtslos wirkenden Konsequenz! Frage:
Wiegt der Gewinn einer solchen – terminologisch begründeten – ‚Säuberungsaktion’
den eher material bestimmten Verlust auf? Ich möchte den möglichen
Verlust mit einem aus der Gegenwart stammenden Beispiel illustrieren.
1974 erschien – im Nachgang zur verebbenden
Revolte an den deutschen Universitäten – ein kleines unscheinbares
Bändchen mit einer Einbandgestaltung von Dieter Süverkrüp:
„Gegendarstellungen – Autoren korrigieren Autoren. Lyrische Parodien”.
Die Herausgeber des Bändchens, Manfred Ach und Manfred Bosch, Mitglieder
des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt, begründen in einer zwei
Seiten langen Nachbemerkung die Tendenz der Anthologie, mithin der „Neu-
und Umarbeitung(en)” in ihr folgendermaßen:
Es „konnte (...) nicht vorrangig darum
gehen, sprachliche Delikatessen (im Sinne des gleichnamigen Gedichts von
Ingeborg Bachmann:
‚Nichts mehr
gefällt mir
Soll ich
eine Metapher
ausstaffieren
mit einer Mandelblüte?
die Syntax kreuzigen
auf einen Lichteffekt?
Wer wird sich
den Schädel zerbrechen
über so
überflüssige Dinge –
Ich habe ein
Einsehen gelernt
mit den Worten,
die da sind
(für die
unterste Klasse)
Hunger/Schande/Tränen/
und/Finsternis’
zutagezufördern
und herauszugeben, sondern Beispiele und Möglichkeiten dafür
aufzuzeigen, wie Parodieren heute zu handhaben ist”.13
Wie nun ist das heute zu handhaben,
was die Herausgeber „parodieren” nennen? An ihren Beispielen mögen
Sie das erkennen – manchmal jedenfalls besser an den Beispielen als an
den, ziemlich unbeholfenen, Beschreibungen und Bestimmungen. Dazu trage
ich einen Text von Dieter Süverkrüp vor, wobei ich auf die Vorlage
hier verzichten kann, da sie in jedem von uns noch umgeht:14
Die roten
Kleberlein
Ein rotes Kleberlein
mit Pinsel und
mit Leim,
das wollt Plakate
kleben gehn
und war so sehr
allein.
Doch ging das
Kleberlein
nur sieben Schritte
weit –
da kam ein andres
Kleberlein.
Da warn sie
schon zu zweit.
Zwei rote Kleberlein,
die nahmen einen
mit,
der eine große
Leiter hat.
Da warn sie
schon zu dritt.
Drei rote Kleberlein
beklebten eine
Tür.
Da kam der Sohn
vom Pastor raus.
Da waren sie
schon vier.
Vier rote Kleberlein,
die wurden ausgeschimpft.
Der rote Paul
hat sie versteckt.
Da waren sie
schon zu fünft.
Fünf rote
Kleberlein,
die trafen unterwegs
ein schwarzes
Afrikanerkind.
Da waren sie
schon sechs.
Sechs rote Kleberlein
sind sechse
nicht geblieben.
Die Ulla wollte
auch noch mit.
Da waren sie
schon sieben.
Sieben rote Kleberlein,
die haben sich
gedacht:
Pauls Schwester
könnte Schmiere stehn. –
Da waren sie
schon acht.
Acht rote Kleberlein,
die hatten wenig
Leim.
Da kam der Tapezierer-Fritz.
Da waren sie
schon neun.
Neun rote Kleberlein,
die wollten
grade gehn.
Der Sohn vom
Schutzmann kam gerannt.
Da warn es endlich
zehn.
Zehn rote Kleberlein,
die haben in
der Nacht
das ganze Viertel
vollgeklebt
und alles rot
gemacht.
Zehn rote Kleberlein,
die warn am
Morgen müd.
Und alle Leute
konnten sehn,
wie schön
die Stadt aussieht.
Nach: „Zehn kleine
Negerlein ...”
Ein schlichter Liedtext! Die literarisch
auch dadurch nicht besser wird, daß er von den Herausgebern der Anthologie
mit dem Hinweis kanonisiert werden sollte, sein Autor gehöre als Mitglied
des Werkkreises zur „derzeitigen kulturellen Avantgarde der Arbeiterklasse”
und zeige mit einer solchen „Bearbeitung” die „Möglichkeit der Umarbeitung”
und „Historisierung” überkommener Produkte „nach Maßgabe der
heutigen Ziele der Arbeiterklasse”15
(die jene kulturelle Avantgarde natürlich genau kannte).
Ich darf übrigens zugunsten Dieter
Süverkrüps annehmen, daß er selber mit der Aufnahme eines
Liedes aus dem sogenannten ‚Volksmund’ sehr viel präziser sein wollte.
In den Tagen der Revolte, aus denen dieser Liedtext stammt (und das war
die Zeit um und unmittelbar nach 1968), kam es ja darauf an, mit Hilfe
gängiger Muster und Mittel der Kommunikation auf die je gegebene Situation
prompt zu reagieren. Um beispielsweise eine politische „Basis” herzustellen
und nach dem Aktionsbedarf des Tages je neue Aktionsgemeinschaften zu mobilisieren,
bedurfte es stets neuer Solidarisierungsappelle. In diesem – im übrigen
viel elementareren – Funktionszusammenhang ist Dieter Süverkrüps
Lied und Liedtext zu sehen.
Nun wäre es allerdings im Sinne
dieser schnellen Reaktion und der Wirkungsintention des Solidarisierungsappells
mehr als fragwürdig – und damit komme ich auf mein Hauptgeschäft
zurück –, wenn das Medium, das Träger der Botschaft zur Solidarisierung
sein soll, mit den Mitteln und Verfahren der Komik ‚bearbeitet’ würde.
Komik bedeutet immer, wie die Komikforschung Bachtins, Plessners, Joachim
Ritters, W. Preisendanz’ und vieler anderer herausgearbeitet hat, Brechung
und Relativierung, Außerkraftsetzen und Infragestellen. Bezogen auf
die Vorlage, die Träger des Solidarisierungsappells sein soll, hieße
das, sie genau um das Wirkungspotential bringen, das ihr eingeräumt
und das von ihr erwartet wird. Sieht man sich die Art der Aneignung des
Liedes „von den zehn kleinen Negerlein” genau an, dürften folgende
Aspekte der neuen Textbildung sofort einleuchten: erstens eine genaue Orientierung
an der Vorlage, an ihrer Makrostruktur und an ihren Sekundärstrukturierungen;
zweitens ein Thema-Austausch ohne verzerrende Folgen für den Prätext;
drittens nicht allein Fehlen jeglicher gegen die Vorlage gerichteter Komik-Verfahren,
sondern vielmehr sogar positive Auffüllung und positive Umkehrung
des reduktiven Handlungs- und Ereignisschemas der Vorlage. Es ist gerade
dieser letzte, die Botschaft bestimmende und bedingende Grundzug der Süverkrüpschen
Umarbeitung, der hier die Annahme einer „parodia iocosa” als gänzlich
unangemessen erscheinen läßt.
Unter der generellen Perspektive der
Vorlesung lassen sich diese Text- und Funktionsbeobachtungen nochmals
mit der Ausgangsproblematik vergleichen. Plädiert man für einen
„Parodie”-Begriff mit engem Begriffsumfang – also mit einer Extension,
die allein im Blick auf Texte wie Brentanos „Thule”-Adaption oder die „Lebenslied”-Brechungen
gelten soll –, dann wären Texte wie die „Parodia Opitiana” Johann
Klajs oder Dieter Süverkrüps „Zehn rote Kleberlein” auszuschließen.
Die Frage ist, ob der Gewinn eines engen und darin auch operationalisierbaren
Parodiebegriffs die entstehenden Textverluste wettzumachen vermag. Dazu
kommt die ebenso wichtige Frage, was dann, textsortentheoretisch gesprochen,
mit der ortlos gewordenen Textmasse angestellt werden soll. Ich will diese
Fragen an dieser Stelle noch nicht zur Entscheidung bringen. Ich wollte
mit ihnen zunächst nur einige Probleme der Theorie bestimmter literarischer
Textsorten und Schreibweisen wie auch der literaturwissenschaftlichen Terminologie
sichtbar machen.
1Th.
Verweyen und G. Witting (Hrsg.), Deutsche Lyrik-Parodien aus drei Jahrhunderten,
Stuttgart 1983 (= RUB 7975), S. 160.
2H.v.
Hofmannsthal: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Gedichte und lyrische
Dramen, hrsg. v. Herbert Steiner, Frankfurt/M. 1963, S. 12f.
3Hans
E. Goldschmidt: Quer sacrum. Wiener Parodien und Karikaturen der Jahrhundertwende,
Wien/München 1976, S. 86; vgl. Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, Reclam,
1983, S. 102.
4Siehe
Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, Reclam, 1983, S. 160f.
5Siehe
Verweyen/Witting: Lyrik-Parodien, ebd., S. 102.
6M.
Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Nach der Edition von Wilhelm
Braune neu hrsg. v. Richard Alewyn, 2. Aufl., Tübingen 1966, S. 23f.
7Siehe
Opitz, Poeterey, S. 22f.
8Johann
Klaj: Parodia Opitiana, in: Erwin Rotermund (Hrsg.), Gegengesänge.
Lyrische Parodien vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 1964,
S. 80f.
9Johann
Klaj: Geburtstag Deß Friedens, in: ders.: Friedensdichtungen und
kleinere poetische Schriften, hrsg. v. Conrad Wiedemann, Tübingen
1968 (= Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock 10), S. [99]; die „Parodia Opitiana”
hier S. [123]f. Vgl. Herbert Cysarz (Hrsg.): Barocklyrik, Bd. 2, Hildesheim/New
York 1969 (= Repr. d. Ausg. Leipzig 1937), S. 135.
10Vgl.
Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, S. 23.
11Verweyen/Witting:
Lyrik-Parodien, Reclam, 1983, S. 302.
12Verweyen/Witting:
Lyrik-Parodien, Reclam, 1983, S. 299.
13Manfred
Ach u. Manfred Bosch (Hrsg.): Gegendarstellungen - Autoren korrigieren
Autoren. Lyrische Parodien, Andernach 1974, S. 57f.: Nachbemerkung.
14s.
Ach/Bosch: Gegendarstellungen, S. 11f.
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