Psalmendichtung
Andreas Gryphius: "REiß Erde! reiß entzwey"
Georg Trakl: "Psalm"
von Liane Manseicher
Inhaltsverzeichnis:
1. Zum Begriff "Psalmendichtung"
2. Andreas Gryphius: "REiß Erde! reiß entzwey"
3. Georg Trakl: "Psalm"
6. Glossar - Erläuterung rhetorischer Termini
7. Sekundärliteratur
1. Zum Begriff "Psalmendichtung"
Die literaturwissenschaftliche Einordnung des Ausdrucks "Psalmendichtung" stellt insofern ein Problem dar, als er, da nicht durch eine spezifische Form definiert, nicht der Kategorie "Gattung" angehört. Die Gemeinsamkeit der durch ihn bezeichneten Texte ist statt dessen im Bezug zu inhaltlichen und formalen Merkmalen der alttestamentlichen Psalmen beziehungsweise zu "eine[r] abstrakte[n] generische[n] Vorstellung vom Psalm"1 zu sehen, der in einer Vielzahl möglicher Gattungen ausgeformt sein kann. Eine Kategorie für Termini dieser Art fehlt.
Die Unsicherheit in Bezug auf die Einordnung der Psalmendichtung schien bereits in den Barockpoetiken ein Problem zu sein, da sie dort nicht erwähnt werden. Im Kanon der Gattungen bei Opitz fehlt die Psalmendichtung2, wiewohl er Psalmgedichte als Exempla zum Beispiel für die Erläuterung von Versmaßen verwendet3. Der Grund dafür ist, daß sich Opitz auf die Gattungen bezieht, die aus den Poetiken der heidnischen Antike bekannt sind.
Da nun das Gesamtphänomen "Psalmendichtung" in verschiedenen Formen realisiert sein kann, ist es sinnvoll, eine Unterscheidung in "historische Textsorten"4 zu treffen, was jedoch eine Bestimmung der Psalmendichtung im ganzen als "Gattung" nicht rechtfertigt.
2. Andreas Gryphius: "REiß Erde! reiß entzwey"
Überlieferung
Der Text "REiß Erde! reiß entzwey" gehört zu den 16 pindarischen Oden, die Gryphius5 über seine drei Bücher "Oden" verteilt, 1643, 1650 und 1657 publiziert hat.6 Die Ode im Anschluß an den 70. Psalm eröffnet dbei das zweite "Oden"-Buch von 1650.7
Poetologische Voraussetzungen der Psalmendichtung im Barock
Während Luther8 für die Psalmendichtung noch den volkstümlichen, niederen Stil verwendet hatte, da ihm die Verbreitung der Lieder in möglichst weiten Volksschichten wichtig war, verstärkte sich ab 1620 das Interesse an der poetischen Form der Psalmendichtungen. Im Zuge der Rechtfertigung des hohen Stils für die Psalmendichtung griff man gern auf Hieronymus9 zurück, der behauptet hatte,
die Bibel [...] sei nicht roh und unkultiviert, sondern nach den Gesetzen der klassisch-lateinischen Poesie verfaßt, sie enthalte rhetorische Figuren und Tropen. [...] Alle Psalmen seien in Metren geschrieben, in der Art des Horaz oder Pindars[...].10Die Vermischung von Formenüberlieferung aus der paganen Antike und biblischen Inhalten gab Gryphius' Zeitgenossen Anlaß zu etlichen Auseinandersetzungen, in denen Fragestellungen aus der Zeit der Kirchenväter wieder aufgegriffen wurden. Um die Probleme, die sich durch den Gegensatz von heidnischer Form und christlichem Inhalt ergaben zu entkräften, sollte der Ursprung der Rhetorik in der Bibel nachgewiesen werden, indem diese rhetorischen Stilanalysen unterzogen wurde11. Damit gewannen die Dichter zugleich ein Argument zur Rechtfertigung ihres Schaffens, das sie vor theologisch begründeten Angriffen zu verteidigen suchten.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, daß auch Gryphius durch das Vorwort zum 4. Buch der Odenglaubt, sein Werk schon im voraus gegen Angreifer verteidigen zu müssen, die ihm einen blumenreichen und schmuckvollen Stil zum Vorwurf machen könnten [...].12
Er wollte keinen Widerspruch zwischen antiker Form und christlichem Inhalt sehen, sondern war darauf aus, die beiden einander nutzbar zu machen, und führte daher seine Argumentation im Sinne der Patristik13. Für sein literarisches Schaffen bedeutete dies eine Wiedergabe der Psalmen nach Maßgabe der Rhetorik und Poetik.
Interpretation des Gedichtes "REiß Erde! reiß entzwey"
Das Titelmotto des Gedichtes stammt aus dem 20. Vers des 70. Psalms nach der Zählung der Vulgata14, des 71. Psalms nach Zählung der Lutherbibel. In letzterer heißt er übersetzt:
Du lässest mich erfahren viele und große Angst und machst mich wieder lebendig15 und holst mich wieder herauf aus den Tiefen der Erde.16Den Inhalt dieses Mottos hat Gryphius in den ersten beiden Strophen der Ode verarbeitet, wobei der "Satz" den Aspekt der Angst beschreibt, der "Gegensatz" das Lebendig-Machen und die Rettung aus der Tiefe. Gryphius verwendet dabei die Kernworte "Angst" (I.3), "Tiefe" (II,12) und "Erde" (II,11), das "lebendig" der Vorlage umschreibt er mit "erneutem Leben" (II,6). Daran zeigt sich, daß Gryphius um die Nähe zum Bibelwort bemüht ist, worin er Luther folgt. Er legt den Bibelworten jedoch noch neue, erweiterte Bedeutungen bei und paraphrasiert nicht etwa nur den einzelnen Bibelvers, sondern wählt als Vorlage für sein Gedicht die Gesamtheit der biblischen Klagepsalmen.
Entsprechend seiner poetologischen Orientierung an den Analysen des Hieronymus verwendet Gryphius für die Psalmendichtung die Form der pindarischen Ode.17 Er entwickelt deabei aus Opitz' einfacher formaler Klassifikation der pindarischen Ode18 eine metrisch und stilistisch ausgeklügelte Form. Auch eine inhaltliche Veränderung fällt bei Gryphius auf: Während Opitz als Beispiele ein Epitalamium und ein Epicedium19 anführt - womit er der traditionellen, antiken Thematik des Preisgesanges auf Personen folgt-, widmet Gryphius seine Ode geistlichen Gegenständen.
In Bezug auf die Aufbauprinzipien sind noch einige weitere Merkmale zu nennen, die entweder der Rhetorik oder den Psalmen entstammen. So entspricht der dreiteilige Aufbau der Ode der dreiteiligen Form der biblischen Klagepsalmen, die aus Wehklage, Wendung zur Zuversicht und Lobpreis bestehen20. Die unvermittelte Wendung von der Klage zur Zuversicht erklärt sich bei den biblischen Psalmen dadurch, daß der Erhalt der göttlichen Antwort im Anschluß an die Klage in den Psalmen nie thematisiert wird. Anders als in der Bibel spricht Gryphius in der zweiten und dritten Strophe ganz direkt von der geglückten Kommunikation mit Gott, von dessen Zuwendung zum lyrischen Ich. Die Wendung von der Klage zur Zuversicht wird also inhaltlich begründet - und dies offenkundig im Rückgriff auf die rhetorische Argumentatio.
Ein weiteres Charakteristikum der biblischen Klagepsalmen ist ihr "Formularcharakter [...]: Sie stehen über dem konkreten Einzelfall und können von verschiedenen Individuen in ähnlicher Lage wieder angewendet werden."21 Auch bei Gryphius kann davon ausgegangen werden, daß er nicht persönliche Erfahrungen literarisieren, sondern anhand allgemein bekannter Topoi den Wahrheitsgehalt seiner Dichtung rechtfertigen wollte. Dies zeigt sich zum Beispiel an den, nicht auf eine bestimmte persönliche Erfahrung bezogenen Klage- (I,3,4,7) und Trost-Topoi (II,3,4), die von jedem Leser mit individuell Erfahrenem gefüllt werden können. Diese Übereinstimmung von Vorlage und Nachdichtung ist wohl weniger auf Gryphius' bewußten Nachvollzug des biblischen Formularcharakters als auf eine bereits vorhandene Übereinstimmung der Dichtungsnormen zurückzuführen.
Die Stilmittel Parallelismus und Antithetik könnten leicht als Nachdichtungen des biblischen Parallelismus membrorum mißverstanden werden. Dies kann insofern nicht der Fall sein, als das Wissen über diese Art der hebräischen Versbindung zu Gryphius' Zeit noch nicht verfügbar war. Parallelismen und Antithesen sind daher wohl eher als rhetorische Stilmittel der Elocutio anzusehen. Als Versuch der Nachahmung ist hingegen die Wahl der Odenform zu werten. Ungewöhnlich für den Anfang eines Psalmes wäre die hier vorliegende Verzögerung des direkten Anrufs Gottes. Erst im achten Vers ereignet er sich, die Verse 1 bis 7 führen darauf in Form des Incrementum hin. Somit stellen die ersten sieben Verse das Exordium der Ode dar. Ebenso wie dieser Teil ist auch der Schluß des Gedichts nicht dem Aufbau der Klagepsalmen entlehnt, sondern der Rhetorik. Die letzten beiden Verse sind ein zusammenfassendes Fazit, die Peroratio.
Bei der genaueren inhaltlichen Betrachtung fällt nun eine Vielzahl von biblischen Motiven auf, die Gryphius unter Beachtung rhetorischer Stil- und Formmaßstäbe im Gedicht verarbeitet, so daßt auch der Inhalt psalmische und rhetorische Elemente vereint. Das Motiv des sich Bedeckt-Wünschens (I,1) stammt aus Psalm 13922, in dem das lyrische Ich, ähnlich dem im vorliegenden Gedicht, den Tod herbeisehnt. Kennt der Leser das Vorbild, wovon Gryphius ausgehen konnte, so weiß er schon jetzt, wie sich der Todeswunsch, der auch aus der Isolation von Gott herrührt, wandeln wird. Das lyrische Ich spricht hier von sich in der dritten Person als dem "ganz verzagten Geist". Doch handelt es sich nicht um die individuelle Erfahrung einer Notsituation, sonst müßten "Noth", "Angst" und "Weh" noch genauer beschrieben sein, sondern vielmehr um die Darstellung des Topos "Not".
Der folgende Dreizeiler, der durch die Beibehaltung des jambischen Metrums im ersten Vers mit dem Quartett verbunden ist, beginnt wiederum mit einem Anruf. Adressaten sind nun die Sterne, als "immerlichten stätter Himmel Lichter" periphrasiert. Der parallel aufgebaute Vers I,7 nennt erneut, wie in Vers drei, die beiden Ebenen des Leidens: körperliche und seelische Pein. Hier tritt zum ersten Mal diese Reihenfolge auf, die im weiteren beibehalten wird und als Steigerung gedeutet werden kann. Der Rufer nähert sich innerhalb von I,1 bis I,7 Gott, dem eigentlichen Ziel seines Flehens, indem er, ausgehend von Dingen der Natur, die ihm nahe sind, seine Adressaten - stufenweise aufsteigend - dem Umfeld Gottes immer näher wählt, um schließlich bei ihm selbst anzukommen.
Mit dem dreifachen Anruf Gottes beginnt der zweite Dreizeiler. Die von nun an direkt an Gott gewendete Klage setzt sich in I,9f. in Form von rhetorischen Fragen fort. Die Beschuldigung Gottes für das menschliche Leiden entspricht der Sprachgebärde von Psalm 13, 2f., die ebenso wie auch die Vorstellung vom Grimm Gottes in den Psalmen üblich ist23. Im nächsten Dreizeiler werden diese Klagen amplifiziert. Erneut wird aufs Sehen (I,11 und I,12) und aufs Hören (I,13) Bezug genommen. Hinzu kommt, als Steigerung, die seelische Pein.
Der letzte Dreizeiler beginnt mit einer Antithese, ähnlich der im ersten Dreizeiler. Nur ist hier der erste Satz als Ellipse noch exklamativer als dort. Nun ist der Klagende ganz auf sich selbst geworfen, er schreit nicht mehr zu Gott, sondern führt nur noch Selbstgespräche. Der Wunsch nach der Flucht aus dem Übel und deren Unmöglichkeit wird in den beiden letzten Versen der Strophe durch Merismen amplifiziert.
Der "Gegensatz" ist als Gesamtheit, aber auch in seinen einzelnen Versen antithetisch zum "Satz" aufgebaut. Wie in I,1 die "Berge" brechen sollten, so "bricht" nun der "dicke Nebel", und Gott tritt hervor. In II,2 wird das Subjekt genannt, ebenso indirekt, nämlich in Umschreibung, wie im zweiten Vers der ersten Strophe das lyrische Ich als Subjekt genannt wurde. Der klimaktischen Beschreibung Gottes folgt der Topos vom allmächtigen und dennoch am Schicksal des einzelnen interessierten Gott.
Im ersten Dreizeiler der zweiten Strophe wird endlich die ersehnte Kommunikation mit der Transzendenz möglich. Mit II,6 knüpft Gryphius nicht nur an Hes. 37,1-14 an, sondern bezieht sich auch auf das Neuwerden eines Menschen durch den Glauben an Jesus Christus24 sowie auf die Auferstehung der Toten. Von nun an zeigt sich die - in der zweiten Strophe noch recht verborgene, in der dritten jedoch offen zu Tage tretende - Ambiguität der Bedeutungsschichten des Gedichtes, das sich nicht nur auf das Verlorensein des Menschen als Ausgeliefertsein an alle innerweltlichen, körperlichen und seelischen Übel, sondern auch auf das Verlorensein des Menschen in Bezug auf sein Seelenheil, die fehlende Beziehung zu Gott und sein Leben nach dem Tod bezieht. So wird jetzt der thematische Bezug auf die Psalmen erweitert durch den Bezug aufs Neue Testament, auf die Verkündigung des Evangeliums.
Zum Zeichen der umfassenden Erneuerung des Menschen durch die Kommunikation mit der Transzendenz verwendet Gryphius im nächsten Vers den Gegensatz von früherem Verstummtsein und aktuellem "jauchtzen[dem] dancken". Zur Vervollständigung der Kommunikation erfolgt nach der Zuwendung Gottes der Dank des Menschen. Im nächsten Terzett ist nicht mehr von Gott, sondern nur noch metonymisch von "seine[n] edle[n] Wächter[n]" die Rede. Auch dieser Topos ist psalmisch25. Von II,9 bis zum Ende der Strophe erstreckt sich nun ein zusammenhängender Gedankengang: der Topos der Errettung des Ich aus der Tiefe. Die Vorstellung von der Hölle als "Mittelpunct der Erden" erinnert an Dantes "Divina commedia". Dort ist die Hölle in einem keilförmigen Loch in der Erde, das bis zum Erdmittelpunkt reicht, situiert. Das Motiv des Klagens aus der Tiefe26 sowie des Herausziehens aus der Grube27 sind dagegen typisch für die biblischen Klagepsalmen. In II, 9 bis II,13 spielt Gryphius auf Psalm 139,9 an, in dem Gottes Allgegenwärtigkeit gepriesen wird. Auch hier klingt die neutestamentliche Hoffnung auf die Auferstehung mit.
Die parallel zu den Versen 12 und 13 aufgebauten Verse 15 und 16 zeigen das Ich nochmals im Herrschaftsbereich des Bösen28, aus dem es durch Gott, der erst hier wörtlich genannt ist, befreit29 wird. Während der zweite, dritte und vierte Dreizeiler jeweils durch Enjambement mit dem vorausgehenden verbunden ist, schließt mit dem letzten Vers auch die Sinneinheit ab. Damit erreicht die zweite Strophe im Bekenntnis des Vertrauens auf die Erlösung ihren inhaltlichen Höhepunkt.
Der formal schlichtere "Zusatz", der dem psalmischen Lobgesang auf die Rettung entspricht, stellt eine Zusammenfassung der beiden vorhergehenden Strophen dar. Dies wird bereits in III,1 deutlich, denn auch hier geht es wieder, wie am Beginn der zweiten Strophe, um eine Periphrasierung Gottes durch seine Taten. Die Funktion Gottes als Beschützer seines Volkes konkretisiert sich im zweiten Vers auf sein exemplarisches Handeln am lyrischen Ich.
Das Paradoxon vom toten Tod als verkürzte Darstellung der Überwindung der Todesverfallenheit der Menschen durch das Heilshandeln Christi geht zurück auf 1 Kor. 15,54. In den folgenden zwei Versen wird das geringe Ansehen des Ich - das sich hier verallgemeinernd in der dritten Person nennt - vor den Menschen30 mit seinem großen Ansehen vor Gott kontrastiert31. In III,8-III,10 wird auf die Abgewandtheit Gottes in der ersten Strophe und auf seine Zuwendung zum Ich in der zweiten zurückgeblickt. Dabei wird - ganz bildlich - die Abkehr mit dem "Rücken", die Zuwendung mit dem Gesicht identifiziert. Letzteres wird in die Komponenten "Mund" und "Augen" aufgeteilt, die mit dem "hören" und "sehen" des Ich in der ersten Strophe korrespondieren. Nachdem Gottes Stellung dem Ich gegenüber zunächst äußerlich geschildert wird (III,7 und III,9) folgen wiederum die seelisch-geistlichen Konsequenzen (III,8 und III,10).
Das Resultat des Gedichts, nämlich das Überwiegen der Freude am Heilshandeln Gottes gegenüber der irdischen Not und den Momenten der Gottverlassenheit wird in den letzen beiden Versen merksatzartig pointiert. Die Antithetik des Gedichts wird erneut betont, das Motto damit noch einmal aufgegriffen.
3. Georg Trakl: "Psalm" (1912)
Trakls Psalmendichtung
Unter Trakls32 Werken finden sich nur zwei Gedichte, deren Titel auf den Bezug zu den biblischen Psalmen schließen läßt: "De profundis" und das im Folgenden zu interpretierende Gedicht "Psalm". Beide entstanden 1912, wobei das Gedicht "Psalm"33 ein Wendepunkt in Trakls Schaffen darstellt, der durch seine Rezeption von Rimbauds Dichtung ausgelöst wurde. Von nun an gestaltete Trakl seine Gedichte in freien Rhythmen nach musikalischen Strukturvorgaben und splitterte sie semantisch in alogische Bestandteile auf.
Interpretation des Gedichts "Psalm"
Formal ist das Gedicht in vier Strophen zu je neun Versen und einen alleinstehenden Endvers eingeteilt. Eine solche Ordnung weckt im Leser die Erwartung auf inhaltliche Korrespondenz. Diese wird jedoch nicht erfüllt, da sich inhaltlich kein ähnlich klares Aufbauschema erkennen läßt.
Hier stellt sich die Frage nach der Kohärenz des Textes. Hinter verschiedenen Mustern läßt sich die Möglichkeit der Aufschlüsselung des Textes vermuten. An dieser Stelle soll nur auf diejenigen eingegangen werden, die sich auf die Analyse der Sprachverwendung beziehen. Das syntaktische Muster der anaphorisch gebrauchten Impersonalform "Es ist" ordnet das Gedicht in den ersten vier Versen in Parallelismen, eine Struktur, die im Verlauf des Gedichts noch einige Male in dieser oder abgewandelter Form auftaucht34, jedoch durch ihr unregelmäßiges Erscheinen keinen Sinnzusammenhang stiftet.
Semantisch-thematische Muster finden sich sowohl in Kompositionseinheiten innerhalb von Satzsequenzen, als auch in über das Gedicht "verteilten" Zusammenhängen, sogenannten "Distanzbeziehungen"35. Inhaltliche Kompositionseinheit bilden die Verse 5 bis 9, ebenso die Verse 17 und 18, 19 bis 22, 23 und 24, 26 und 27 sowie 31 und 32. Distanzbeziehungen sind zum Beispiel zwischen den ersten Vershälften der Verse 5, 11 und Vers 36 zu erkennen, sowie zwischen Vers 15 und der ersten Hälfte von Vers 26.36 Auch finden sich inhaltliche Korrespondenzen aufgrund von Lexemzugehörigkeit, wie es beispielsweise in den Versen 2 und 3 durch die Lexeme "Heidekrug", "Betrunkener", "Weinberg" der Fall ist.37 Weitere wiederkehrende Muster sind das der Kontrastierung von positiven und negativen Begriffen, und das der negativen Intensivierung.38 Bereits im ersten Vers sieht man ein Beispiel für die Positiv-Negativ-Kontrastierung. Zusätzlich findet sich hier noch das Paradoxon der Darstellung einer Existenz, die bereits nicht mehr existiert. Ein weiteres Beispiel für die Positiv-Negativ-Kontrastierung ist Vers 3. Bei diesem Muster läßt sich zusätzlich in einigen Fällen die Zeitstruktur der Kontrastierung von einst und jetzt erkennen. Während der positive, bestimmungsgemäße Sachverhalt mit der Zeitstufe "einst" in Verbindung gebracht wird, ist dessen Negativierung ein Produkt des "jetzt"39.
Die Struktur der negativen Intensivierung
wird bei der komplexen Verwendung des Spiegelmotivs deutlich, das - ebenso wie der Schatten auch - schon oft für das Spiel mit der Identität herhalten mußte. 'Schatten' hat an sich schon das semantische Merkmal [immateriell] wie das Spiegelbild, das aber nun doppelt unmöglich ist, da der Spiegel erblindet ist.40
Auch in Distanzbeziehungen wird dieses Muster wiederholt, so in den Versen 17 und 29. Doch auch unter diese beiden Muster lassen sich nicht alle Verse des Gedichtes integrieren, zum Beispiel paßt die Versfolge 19 bis 22 in keines der Schemata, ebensowenig "Dann hebt ein Flimmerregen an." (Vers 11), "umgeben von Märchen und heiligen Legenden" (Vers 27) und andere. Auf Vers 37 soll im Folgenden gesondert eingegangen werden.
Die verschiedenen, dargestellten Muster bieten jeweils Möglichkeiten zur Erklärung einiger Teile des Gedichts, sind jedoch nicht tauglich, um aus ihnen eine Interpretation des gesamten zu erschließen. Der bisher noch nicht besprochene letzte Vers des Gedichts, der aufgrund seiner End- und Alleinstellung eine Art Fazit erwarten läßt, ist auch nicht eindeutig interpretierbar. Aber es lassen sich recht klar zwei Deutungsmöglichkeiten erkennen. Durch die Wiederholung der Farbe "Gold" in Vers 25 erschließt sich eine Deutungsmöglichkeit, die im Suchen der Transzendenz (Vers 25) und einer Zuwendung selbiger oder zumindest in einer Hoffnung auf Zuwendung (Vers 37) besteht.
Die andere, der ersten entgegengesetzte Erklärung läßt sich durch mehr als nur einen Hinweis erschließen. Zunächst wiederholt sich im Endvers das Muster der Positiv-Negativ-Kontrastierung in umgekehrter Reihenfolge, das aber, trotz der veränderten Form, auf eine Wendung zum Negativen schließen läßt, da die Reihenfolge durch eine stärkere Betonung des Wortes "Schweigsam" begründet sein könnte. Auch diese Hervorhebung läßt die Zuwendung der Transzendenz als fragwürdig erscheinen. Wenn im kulturellen Kontext davon ausgegangen werden kann, daß sich Trakl hier einer biblischen Gottesvorstellung bedient, so bedeutet das Adjektiv "schweigsam" ein äußerst negatives Urteil, denn das Sprechen des biblischen Gottes ist gleichzeitig Handeln41. Ein schweigsamer Gott ist also auch ein tatenloser.
Ein weiteres Argument für diese These ist die Bewegungsstruktur des Gedichtes in den letzten vier Versen. Während sich in "vorübergleiten" (Vers 34), "niedersteigen" (Vers 35) und "in seinem Grab" (Vers 36) eine Abwärtsbewegung feststellen läßt, erscheint die Transzendenz in der Endzeile durch den Kontrast von "über" (Vers 37) zur vorausgehenden Abwärtsbewegung besonders weit entfernt. Auch die erste Fassung von Trakls Gedicht bestätigt diese Interpretation, da es dort anstelle des hier eingesetzten Schlußverses heißt: "Wie eitel ist alles"42, was im Folgenden noch erläutert wird.
Diese zweite Deutungsmöglichkeit, welche besagt, daß der Endvers die negative Steigerung des Gedichtes - die Enttäuschung jeglicher menschlichen Hoffnung auf die Transzendenz darstellt, erscheint besser begründbar, als die erste.
Hier wird der Unterschied zu Gryphius' Gedicht deutlich: Dort schien Gott zunächst unerreichbar, wendete sich dem Sucher dann aber zu und entschärfte dessen Not. Hier dagegen wird die Erwartung der Erfüllung in der Transzendenz zunichte gemacht.
Noch deutlicher wird die Unterscheidung der beiden Gedichte, wenn man die erste Fassung von Trakls "Psalm" zu Rate zieht, deren Schlußvers "Wie eitel ist alles!"43 das vanitas-Motiv aufgreift, das auch, wenngleich nicht wörtlich, in Gryphius' Gedicht (I) erscheint. Während das vanitas-Motiv des barocken Gedichts sich nur auf das diesseitige Leben bezieht, und auch dort durch die Kontaktaufnahme mit Gott gemildert werden kann, in jedem Fall aber die Aussicht auf eine vielfache "Entschädigung" im Jenseits hat, ist die Sinnlosigkeit in Trakls Gedicht endgültig. Insofern nimmt Trakl Bezug auf diese barocktypische Thematik und modifiziert sie entsprechend seiner Weltsicht.
Das lyrische Ich, das bei Gryphius ein Beispiel für das Handeln Gottes am Leben eines Menschen darstellt, findet bei Trakl keine Entsprechung. Es gibt kein durchgängiges Subjekt, sondern es wird eine Fülle von Tatsachen konstatiert, was auch durch das Fehlen eines Gegenübers begründet ist. Im Gegensatz zur dynamischen Aktion44, die das Gedicht von Gryphius prägt, werden hier nur statische Fakten festgestellt, deren Unabänderlichkeit durch die Wiederholungsfigur "Es ist" zum Ausdruck kommt. Während Gryphius den Leser auf argumentative Weise von der Wahrheit seiner Aussage überzeugen will 45, sind hier die Inhalte hermetisch verschlüsselt und assoziativ, in keinem Fall jedoch durch literarisch-rhetorische Beweisführung dargestellt, so daß sie auch nur zum Teil entschlüsselt werden können.
Zu fragen bleibt noch nach der Intention des Gedichts und dessen Rekurs auf die Grundform "Psalm" im Titel. Der Bezug der Gesamtaussage von Trakls "Psalm" auf die inhaltlich Grundzüge der biblischen Psalmen liegt in Form der Negation vor. Während fast alle biblischen Psalmen einen Dialog zwischen einem Einzelnen beziehungsweise dem Volk und Gott darstellen, fehlt bei Trakl jegliche Kommunikation, da auf der einen Seite ein lyrisches Ich nicht vorhanden ist und auf der anderen ein "schweigsam[er]" Gott steht. Bei Gryphius hingegen wurde das dialogische Prinzip nicht nur realisiert, sondern im Vergleich zum biblischen Psalm sogar erweitert, da Gottes Reaktion explizit thematisiert ist. Daraus läßt sich wohl folgern, daß Trakl mit dem Rekurs auf die biblische Gattung die Möglichkeit, die dort vorhanden ist, als nicht bzw. nicht mehr realisierbar darstellen will. Die Desorientierung des Lesers, die von der komplizierten inhaltlichen Struktur des Gedichtes herrührt, ist somit Teil der Intention, da dem Leser damit auch auf dieser Ebene die Komplikation der Kommunikation bzw. ein Kommunikationsdefizit vorgeführt wird.
Primärtexte
Glossar - Erläuterung rhetorischer Ausdrücke
Sekundärliteratur
Anmerkungen:
1 Bach, Inka u. Galle, Helmut: Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung, Berlin, New York 1989, S. 8.
2 Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey (1624), hrsg. v. Cornelius Sommer, Stuttgart 1970, S. 23ff.
3 ebd. S. 48.
4 Bach u. Galle, 1989, S. 11.
5 Ein Bild, Kurzbiographie und Werke von Gryphius gibt es im Projekt Gutenberg
6Vgl. Manuack, Eberhard: Andreas Gryphius. 2., vollst. neubearbeitete Aufl., Stuttgart 1986 (Slg. Metzler: M76), S. 41f.
7Vgl. Gryphius, Andreas: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, Bd. 2: Oden und Epigramme, hrsg. v. Marian Szyrocki, Tübingen 1964, S. 33f.
8 Suchen in der Luther-Bibel
9 Lateinischer Kirchenvater ca. 347-420.
10 Bach u. Galle, 1989, S. 50.
11 Ein Beispiel dafür ist die Analyse der Psalmen von Christoph Corner in Corner, Christoph: Psalterium latinum Davidis prophetae et regis cum familiari et pia expositione, ac brevi narratione artificij Rhetorici pertinentes ad rationem inventionis, dispositionis et elocutionis. Lipsiae 1578, fol. B 5V-B 6. zit. nach Dyck, Joachim: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977, S. 78. Er hält die biblischen Psalmen für Oden und Epigramme.
12 Dyck, 1977, S. 50.
13 Vgl. dazu Dyck, 1977, S. 28: "Hieronymus weist den Weg zur grammatisch-rhetorischen Analyse des Bibeltextes , fordert ihre Interpretation mit den Maßstäben der heidnischen Literatur und schafft damit die Basis für eine fruchtbare Verbindung von antiker Bildung und christlicher Theologie.".
14 "Vulgata" ist die Bezeichnung für die Bibelübersetzung ins Lateinische (382-420) von Hieronymus.
15 Bis hierher das Motto, der Vers geht weiter.
16 Alle Bibelstellen zitiere ich nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984.
17 Diese seit 600 v. Chr. bekannte Form der Ode wird nach ihrem größten antiken Vertreter, Pindar, benannt, dessen Epinikien in der triadischen Odenform verfaßt sind. Wiederentdeckt wurde die pindarische Ode Anfang des 16. Jahrhunderts von den italienischen Pindaristen, die sich an einer metrisch detailgetreuen Nachdichtung der pindarischen Werke versuchten und damit zu den Vorläufern des französischen Dichterkreises "Pléiade" wurden, der seinerseits Opitz beeinflußte. Vgl. Viëtor, Karl: Geschichte der deutschen Ode. München 1923.
18 "In den Pindarischen Oden / im fall es jemanden sich daran zue machen geliebet / ist die erste Strophe frey / vnd mag ich so viel verse vnd reimen darzue nemen als ich wil / sie auch nach meinem gefallen eintheilen vnd schrencken: Antistrophe aber muß auff die Strophen sehen / vnd keine andere ordnung der reimen machen: Epodeos ist wieder vngebunden. Wan wir dann mehr strophen tichten wolten / mussen wir den ersten in allem nachfolgen: wiewol die Gelehrten; vnd denen Pindarus bekandt ist / es ohne diß wissen / vnd die andern die es aus jhm nicht wissen / werden es auß diesem berichte schwerlich wissen lernen": vgl. Opitz: Buch, S. 59. Im Anhang (S. 92) findet sich dazu die Anmerkung: "Erst in unserem Jahrhundert hat man erkannt, daß Pindars Metren durchaus nicht so frei sind, wie Opitz annimmt, sondern in Wirklichkeit strengen und sehr komplizierten Regeln unterliegen."
19 Opitz: Buch, 1970, S. 60ff.
20 Ein Beispiel dafür ist Psalm 74.
21 Bach u. Galle, 1989, S. 43.
22 "Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein -, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht" (Ps. 139, 11-12).
23 "Dein Grimm drückt mich nieder, du bedrängst mich mit allen deinen Fluten." (Ps. 88,8) "Dein Grimm geht über mich, deine Schrecken vernichten mich." (Ps. 88,17)
24 "Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden." (2 Kor. 5,17)
25 "Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen" (Ps. 91,11)
26 "Aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu dir." (Ps. 130,1).
27 "Er zog mich aus der grausigen Grube, aus lauter Schmutz und Schlamm, und stellte meine Füße auf einen Fels, daß ich sicher treten kann." (Ps. 40,3). "HERR, du hast mich von den Toten heraufgeholt; du hast mich am Leben erhalten, aber sie mußten in die Grube fahren." (Ps. 30,4).
28 Die "Luft" und die Wüste ("heißes Land") können als Aufenthaltsorte des Satans angesehen werden: "[...] unter dem Mächtigen, der in der Luft herrscht, nämlich dem Geist, der zu dieser Zeit am Werk ist in den Kindern des Ungehorsams" (Eph. 2,1-2), "[...] und [Jesus] war in der Wüste vierzig Tage und wurde versucht von dem Satan [...]" (Mk. 1,13).
29 "wider bringen" bedeutet Sünder, Verirrte zurückbringen, erlösen, retten. Auch: "Tote wiederbringen". Gott und Christus werden oft als "Wi(e)derbringer bezeichnet. (Nach: Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, Bd. 29).
30 Mit Bezug zu I,10.
31 "und das Geringe vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas ist, damit sich kein Mensch vor Gott rühme." (1 Kor. 1,28)
32 Ein Bild von Georg Trakl, Kurzbiographie und Werke gibt es im Projekt Gutenberg
33 Im Umfeld von "Psalm" existieren noch zwei weitere Gedichte: eine erste Fassung dieses Gedichtes und ein weiteres Gedicht mit dem Titel "Psalm" aus dem Nachlaß.
34 in den Versen 5, 14-16 und 28.
35 Dieser Begriff wurde eingeführt von S. J. Petöfi, zit. nach Witting, Gunther: Literarische Sprachverwendung. Zur Frage der Kohärenz von Georg Trakls "Psalm", Konstanz 1975, S. 120.
36 Hier folge ich der Darstellung von G. Witting: Literarische Sprachverwendung, S. 117ff.
37 Ebd., S. 119.
38 Ebd., S. 124ff.
39 Ein Beispiel dafür ist der Motivkomplex der Verse 12 und 13. Hier wird durch die Darstellung des "jetzt" auch das "einst" evoziert; während der Sohn des Pan nur noch die "Gestalt eines Erdarbeiters" besitzt, war sein Vater, Pan, eine Gottheit.
40 Ebd., S. 125.
41 Das göttliche Wort hat Schöpferkraft, was in 1 Mose 1,3, sowie in Psalm 33,9 deutlich wird.
42 Trakl, Georg: Dichtungen und Briefe. Historisch-Kritische Ausgabe, hrsg. v. Walther Killy u. Hans Szeklenar, Bd.1, Salzburg 1969, S. 367
43 Ebd., Zitat aus Prediger 1,2.
44 zum Beispiel in Form von Interjektionen und Ellipsen.
45 Der dreiteilige Aufbau entspricht dem Aufbau dialektischer Argumentationstechnik, bestehend aus These, Antithese und Synthese.