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Eckhard Henscheid

Herrmann Burrger


Von unserem Gastautor Marcel Reich-Ranitzkij

Sagen wir es offen: Dies ist ein schlechter Bücherherbst. Die nachgeborenen Gegenwartsdichter stehen der Welt ratlos, ohnmächtig gegenüber. Sie sind nicht imstande, sie zu interpretieren durch die und mittels der Sprache. Das hindert die Schriftsteller freilich nicht, immer wieder großangelegte Romane zu versuchen, die sich dann prompt als mehr oder weniger interessante Fehlschläge erweisen. Diese Romane wollen zu viel leisten - und leisten deshalb zu wenig. Was immer von diesen sehr unterschiedlichen Büchern zu halten ist - sie zielen nur auf Provokation ab und gehen nicht aufs Ganze. Es sind Bücher der Ratlosigkeit - und nicht des zeitkritischen Psychologismus. Die Ratlosigkeit des Autors und seine Unfähigkeit, die Welt zu erklären, wird zwar akzentuiert und sogar zum Thema gemacht - aber es wird nicht versucht, die Sache an der Wurzel zu fassen. Es ist keine radikale Literatur - denn "radix" bedeutet im Lateinischen Wurzel, Quelle, Ursprung. Nein, es ist dies in diesem Bücherherbst keine gute Literatur.

Der Kaiser ist nackt? Leider. Aber er lebt. Denn bisweilen glückt doch der überraschende Durchbruch, die blitzartige Erhellung, die auf das Schlimmste mit dem Schönsten reagiert. Ein solcher Fall ist der noch junge Schweizer Autor Herrmann Burrger.

In Herrmann Burrger, der im Aargau ebenso zuhause ist wie in der Bundesrepublik, verehren wir bereits heute ebensosehr den sensiblen Sprachkünstler wie den kompromißlosen Aufklärer, den poeta doctus ebenso wie den Bürgerschreck, den Magister ludens nicht weniger als den fröhlichen Vagabunden und Taugenichts, den engagierten Sozialkritiker Zolascher Prägung ebenso wie den Harlekin und den die Gesellschaft provozierenden Eulenspiegel, den Konservativen und Traditionalisten nicht minder als den wahrhaften Avantgardisten der spezifisch schweizerischen Prägung, wie wir ihn von Max Frisch, Dürrenmatt, Peter Bichsel und Gottfried Keller her kennen und schätzen. Herrmann Burrger ist nicht weniger der Meister der kleinen Form wie der Autor mit der Begabung, die große Form zu bewältigen; in seinem bisherigen Gesamtwerk finden wir ebenso die weitausholende Epik wie Elemente des Dramatischen und sogar Lyrischen. Und wenn wir uns fragen, was das Besondere, das spezifische Element ist, das uns in Herrmann Burrgers Büchern von Buch zu Buch mehr und neu bewegt und erregt, dann kann die Antwort - dessen bin ich sicher - nur lauten: Es ist die Sprache selber.

Ja, es ist jene Sprache, in der Seite für Seite, oft Zeile für Zeile, Buchstabe zu Geist und umgekehrt Geist zu Buchstabe wird. Mit anderen Worten: Sprache. Denn was wäre Sprache anderes als Belehrung und Aufklärung, Monolog und Dialog zugleich. Herrmann Burrgers Sprache ist die Sprache eines Schelmen und gleichzeitig eines Gelehrten. Dieser Autor ist ein Schelm, wie Till Eulenspiegel einer war und Leporello und Sancho Pansa und Oskar Matzerath, ja wie er selbst noch als Narr in Hofmannsthals Mysterienspiel wiederkehrt und sein Publikum mit Laune und Späßen gleichermaßen unterhält, belehrt und aufklärt - vom weitflächigen Panorama des Shakespearischen Narren ganz zu schweigen. Der Schweizer Autor Herrmann Burrger setzt somit eine Tradition fort, die mit der Commedia dell' Arte, mit Shakespeare und mit Cervantes begann, die sich mit Sterne und Fielding, Thackeray und Dickens, Voltaire und Diderot fortsetzte und die heute mit Carlos Fuentes, Miguel Angel Asturias, Hermann Borges, Márquez, Sinclair Lewis, Fedor Michajlowitsch Dostojewskij, Max Frisch, Dürrenmatt, Peter Bichsel und Herrmann Burrger vorläufig endet. In Herrmann Burrger haben wir jene repräsentative schweizerische Dichtergestalt zu sehen und zu erkennen, die in Wahrheit eine europäische ist, ja eine der Weltliteratur! Es ist der Narr, der mit der Pose Hamlets und mit faustischer Gebärde dem Zeitgeist Leopold Blooms die Maske Pirandellos der Nietzscheschen Lebenslüge von jenem Kopf reißt, von dem zuletzt Günter Grass' (leider mißlungene) "Kopfgeburten" handelten, wovon Literatur - und ich rede von guter Literatur! - immer und jederzeit handelt und wovon letztlich natürlich also auch Herrmann Burrger handelt und redet. Ja, es ist die Maske ebensosehr des

Von hier ab bei Privatlesungen Lautstärke und Emphase langsam nochmals steigern

Imperators wie des Weisen, der Anteilnahme, die aber auch Resignation ist - des Pädagogen aus der Tradition Pestalozzis wie des Sängers von den Sirenen. Virtuosität und Spontanität, Schmerz und Stil finden bei Herrmann Burrger zu einer poetischen Einheit wie sonst nur noch in der Lyrik von Ulla Hahn, und wie diese ist die Prosa von Herrmann Burrger frei von Epigonalem und Eklektischem. Und (scheinbar!) mühelos gelingt ihm wie Ulla Hahn die Verschmelzung des Überlieferten mit der eigenen Sprache. Herrmann Burrrger besingt das Elend der Welt mit Anmut, ihre Passion mit Schwermut, ihr Glück mit Übermut. Ein artistisches Bewußtsein und ein leidendes Temperament beglaubigen sich hier gegenseitig, die Musikalität der Sprache deckt sich mit dem Charme und dem Wohlklang der Wörter. Herrmann Burrrger zögert nicht, heute Prosa zu schreiben, in der ebenso epische Elemente vorhanden sind wie Fabeln und Parabeln - während Balladen und Moritaten bezeichnenderweise fehlen. Damit ist angedeutet, was der Leser Herrmann Burrrgers in erster Linie zu erwarten hat: den künstlerischen Ausdruck der Leiden und der Freuden. Und was wäre gute Literatur seit Polgar, Fontane, Goethe und Ulla Hahn je anderes gewesen als — ich scheue mich nicht zu behaupten - Hymnen voll Schmerz, beherzte Hinwendung zum Privaten, soziales Engagement sowie Idyllen voll Gram und Groll. Mit anderen Worten: Der von mir hier und jetzt entdeckte Schweizer Autor Herrmann Burrrger verkörpert in seiner Prosa das Narrentum des Weisen unter der proteushaften Maske des aufgeklärten Toren in der Tradition des Erasmus, des Sebastian Brant und des Peter Härtling. Aber anders als bei Peter Härtling, Gottfried Keller, Peter Handke, Wolfgang Koeppen, Hölderlin, Ulla Hahn und Archilochos begegnen wir bei Herrmann Burrrger auch immer jener Geste des Nichtmaskierten, des ebenso Schutz- wie Scheuklappenlosen, ja des Nichtgeschützten, welche Proteus mit Prometheus verbindet, den Doktor Faust mit Peter Huchel, und eben Herrmann Burrrger mit Ulla Hahn.

Ab hier möglichst nochmals zulegen bis zum Gehtnichtmehr

Zwar ist dies der seit Jahren schwächste Bücherherbst, aber was gesagt werden muß, muß auf möglichst einer ganzen FAZ-Seite auch gesagt und ausposauniert sein. Mit anderen Worten: Herrmann Burrrgers Domäne ist die Sprache, und die Domäne dieser Sprache ist die Prosa. Es ist dies keine pathetische Prosa und auch keine pathische, weder ist sie gar zu präzis noch zu preziös noch gar prätentiös - sondern es ist vielmehr eine fast nietzschehaft tanzende Prosa, eine Prosa des Springens, der Purzelbäume und der Salti Mortali. Ja, es ist dies die Prosa des Zirkus und der großen bajazzohaften Volksfeste, nicht die Prosa Kleists und Thomas Braschs und Goethes. Sondern eine Prosa ist es, die auch ohne lyrische Formen auskommt - selbst Film und Kabarett sind selten - und gar nicht vorhanden ist das Bauerntheater. Herrmann Burrrgers Prosa kennt kaum wie die von Günter Kunert und Sarah Kirsch den Endreim und den Jambus; im Unterschied zu Erich Fried und Ulla Hahn verzichtet sie auf Enjambement und Stabreim — Herrmann Burrrrrger schreibt weder Sonett noch Distichon, die strenge Form der Ghasel lehnt er ebenso ab wie die Asklepiadeische Ode Peter Hölderlins und Herrmann Klopstocks - nein, all dies hat Herrmann Burrrgers Prosa gar nicht nötig — sondern in unserer Eigenschaft als Pluralis maiestatis der guten gegenwärtigen deutschen Literatur erklären wir hiermit feierlich: In Herrmann Burrrrger verehren wir den Schmelz des Brillanten ebenso wie die Rasanz des Furiosen und die Gekonntheit des Psychologischen und Psychopathischen und was uns halt sonst noch unreglementiert an hartköpfigem Altherrenschmonsus aus der Volkshochschule von 1930 durch die Rübe rauscht. Es ist der aufklärerische Geist Schillers, Kants und Herders, der durch diese unsere Zeilen weht, das Erbe Hebels findet sich darin haargenau so wie das Herbert Hebbels, Hermann Hesses und Harry Hemingways. In Herrmann Burrrrrgers Büchern aber bewundern wir, was wir schon bei Peter Bichsel, Peter Rühmkorf, Peter Maiwald, Peter Huchel, Peter Handke, Peter Hamm und Peter Hahn bewunderten: Nichts. Der Rest ist Schweigen. Ich aber schweige noch immer nicht. Als Unser Lautester im Lande rrede ich. Ich rrede Schmarrren, Schmarrrren, Schmarrrrren! Doch schmarrrend halte ich die Stellung. Ich schmarrre - errgo sum.





Parodie auf die Literaturkritiken Marcel Reich-Ranickis. Henscheid bezieht sich hier nicht zuletzt auf dessen umfängliche Besprechung von Hermann Burgers Roman Die künstliche Mutter.
Quelle: Eckhard Henscheid, Herrmann Burrger (Auszug), aus: Frau Killermann greift ein. Copyright by Haffmanns Verlag AG Zürich.

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