ERNST JÜNGER
STRAHLUNGEN
Trete nach einem Teller Suppe wieder in diese sterile Materie ein, mit
leichtem Zauder, wie dergleichen wohl immer die Fliehkraft der Anziehung
zugesellt. Unter der Post ein Brief Friedrich Georgs, dem ein Gedicht von
später Prismatik beiliegt. Doch Homeride zu sein, auch nur als
letzter,
ist schön.
Abends bei der Doctoresse, die mir das Hühnerauge
vom 13.9. entfernte. Weidete lange im Anblick des Präparats, um
siamesischen
Fäden nachzugehen. So hält man sich auf der Höhe der Geistigkeit.
Tristitia. Fahrt zum Friseur in die Avenue Kléber, suspektes
Wachstum beheben zu lassen. Dort über Makrozephalie, mit der Manicure
später von Samson und Delila, wobei sich ein verhaltener Zug von Erfahrung
in ihre Mundwinkel ritzte. - Urformen des Mutterrechts.
Erinnerte ein mot juste von Karl Kraus: Friseurgespräche sind
der unwiderlegliche Beweis dafür, daß die Köpfe der Haare
wegen da sind.
Leichte Verstimmung.
Auf Wolken die Sonne. Trieb tagsüber chiroskopische Studien und
möchte des Daumens (Duomen, Doumen, domare) Erwähnung tun, dem
- wie d'Aspentigny nachweist - Symbolkraft amvohut: l'animal superieur
est dans la main, l'homme est dans le pouce. Dahin auch das Daumenhalten
und den Daumen beißen.
Gedanke: In Konkordanz zu bringen mit Kannibalismus?
Und abends den guten Kaffee.
Briefe, in denen Hinterbliebene von Lesern schreiben, mehren sich. Erbaue
mich auf subtiler Jagd in der Wanne und bringe eine vibra lavationis ein
(Seife aus der Rue de Duras), an der ich Flossenbildung bemerke. Muß
Dönitz darüber zu Rate ziehen.
Auch fernerhin in den Psaltern, vor allem Psalm 90, Vers 9: Darum fahren
alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn; wir bringen unsre Jahre zu wie
ein Geschwätz.
Doch geben die neuen Hosenträger Mut für weitere Geisteskämpfe,
auch lassen sie Willensfreiheit.
Capriccio tenebroso: Der Waldarbeiter.
Embarras de richesse.
Rückfall des Hühnerauges vom 13. 9., deute das als Wiedergeburt
im Geist des Novalis, freilich luziferischem Einschlag.
Früh zu Picasso. Finde dort M., der im Ruche der Männerminne
steht; abscheulich. Gespräch über die Anarchie des Beistrichs
seit Henri Bergson, gebe die Bedeutung des Nullpunkts zur Replik, über
dessen Struktur sich der Hausherr verliert.
Mittags Sardinen, dann in den Elysäischen Gärten, die ich
bei schönem Flor finde. Im Halbschlaf auf einer Bank lebhaft mit
Großvater Dominik kommuniziert, was Ausblick auf Unaussprechliches
geben sollte.
Tous les genres sont bons, hors le genre ennuyeux. Einer der
Irrtümer
Voltaires.
Nachts Träume. Sah mich in einer Leimfabrik, die wilden Urworte
der Menschheit abtragend, dann dazu verurteilt, meine Quisquilien ins
Unermeßliche
fortzusetzen. Erwachte durch ein dämonisches Sauve qui peut!
der
alten Portiersfrau. Doch schrieb ich das starker Einbildungskraft zu.
Berufswunsch: Seifenkistlfahrer.
Der Transport des Frühstücks bereitet Schwierigkeiten, weil
keine Verpackungsstoffe zur Hand. Greife nach diesem Album, an Plinius
den Älteren denkend (bei Pl. d. J. ep. III, 5, 10): Nullus est liber
tam malus, ut non aliqua parte prosit.
Sed non possumus ...
Ja der phototropistiche Stil!
Nachmittags im Friedhof Batignolles, wo ich alle Hoffnung begrub, jemals
wesentlicher zu werden. Verweilte am Grabe Verlaines, das eine Viola odorata
L. schmückte. Brach mir ein Stenglein davon.
Kleines Streiflicht: Nicht jeder Dichter hat nach sechzig Jahren noch
Blumen auf seinem Grab.
Parodie auf Ernst Jüngers Tagebuch "Strahlungen" (1949).
© Wolfgang Buhl. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung
des Autors. Jede kommerzielle Verwendung dieses Textes ist untersagt!
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