Naturgedichte IIBarthold Heinrich Brockes: "Die Heide"
(1727) von Dirk RühaakBarthold Heinrich Brockes "Die Heide" (1727)KurzbiographieBarthold Heinrich Brockes (1680-1747) lebte als Hamburger Patrizier ein von Geschäften kaum belastetes Leben, das er der Dichtung als Lyriker und Übersetzer widmete. Der frühaufklärerische Dichter wird in Literaturgeschichten häufig als "der erste Realist" bezeichnet, was sich auf den enormen Detailreichtum seiner lyrischen Naturbetrachtungen gründet, seinen geradezu mikroskopischen Blick für die Zier und Vielfalt der Schöpfung. Brockes schreibt lehrhafte Gedichte und obwohl die Natur bei ihm einen bisher nicht erreichten Selbstwert erlangt, wird sie trotzdem immer wieder auf Gott rückbezogen. Brockes' lehrhafte Betrachtungen der Natur gipfeln stets im teleologischen Gotteslob. Seine Lyrik dient somit der geistlichen Erbauung und so erfüllt sie auch das Postulat des delectare et prodesse (erfreuen und belehren) der Poetik des Horaz, der im 17. und 18. Jahrhundert am meisten rezipierten Poetik. WerkgeschichteDas Gedicht "Die Heide" findet sich im zweiten Band von Brockes' Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott bestehend in verschiedenen aus der Natur und Sitten-Lehre hergenommenen Gedichten, die in neun Bänden in den Jahren 1721 bis 1748 erscheint und die neben Gedichten auch Übersetzungen Brockes' aus dem Englischen und Französischen enthält. Die Naturlyrik der AufklärungBei Brockes wird der allegorische Naturbegriff,
der noch das Barock prägt, von einem naturwissenschaftlichen
Naturbegriff abgelöst, der aber trotzdem noch religiös
fundiert ist.1 Die
Natur wird jetzt empirisch exakt vermessen und beobachtet und die
empirisch gewonnen Einsichten in Mikro- und Makrokosmos dienen
dem Lob Gottes. Brockes bedient sich eines in seinen Gedichten
immer wiederkehrenden Verfahrens:
Dieses Verfahren, das "Buch der Natur" zu lesen und darin die Handschrift des Schöpfers zu erkennen, diese Gotteslehre aus der Natur wird als Physikotheologie3 bezeichnet. Der Physikotheologe deutet naturwissenschaftliche Entdeckungen christlich. Brockes erreicht in seinen Detailbetrachtungen eine bisher nicht da gewesene Genauigkeit, vor allem vermag er wie kaum ein anderer Farben bis in feinste Nuancen sprachlich zu erfassen, worin sich das in der Poetik des Horaz formulierte mimetische Prinzip ut pictura poesis verwirklicht findet. Interpretation des GedichtsDas Gedicht besteht aus 38 Verszeilen unterschiedlicher Länge, die zwar allesamt jambisch sind, aber keine einheitliche Anzahl von Hebungen aufweisen. Es handelt sich hier um den in der Dichtung der Aufklärung weitverbreiteten vers libre, der das lyrische Sprechen der Prosa annähert. Uneinheitlich ist auch das Reimschema, Schweifreim, umarmender, paariger und Kreuzreim sind über die sechs Strophen des Gedichts verteilt.4 Auch der überwiegend hypotaktische
Satzbau, Konzessivsätze und Parenthesen (z.B. V. 29f.: "Ich
fand, daß ob sie gleich sehr klein / Die Stämme
wahres Holz, wie große Stämme sein." [Hervorhebung
D.R.]) sind Kennzeichen eines prosanahen Sprechens. Es fällt
auf, dass der Text fast ohne Metaphern auskommt, statt dessen
finden sich Vergleiche und Metonymie (V. 34-36: "Die
Blümchen [...] sieht man der Bienen Heer die süsse
Nahrung reichen." [Hervorhebung D.R.]). Es lässt sich
festhalten, dass in Brockes' Gedicht ein überwiegend
sachliches, rationales Sprechen vorherrscht. Der Einteilung des Textes in sechs Strophen entspricht eine inhaltliche Gliederung, die sich als rational, logisch argumentierender Gedankengang nach Vorbild einer mathematischen Beweisführung beschreiben lässt.5 Die erste Strophe stellt einen Lehrsatz auf, nämlich, dass sogar die auf den ersten Blick eher unscheinbar wirkende Heide auf Gott verweist. Dieser Lehrsatz wird in der zweiten Strophe als Behauptung weiter ausgeführt, wobei die Wichtigkeit eines schon in der ersten Strophe geforderten "rechten Blickes" näher erläutert wird. Beide Strophen sind durch Abwesenheit eines lyrischen Ichs gekennzeichnet, in der ersten Strophe ist das Subjekt "man", in der zweiten "wir", so dass diese ersten Strophen, Lehrsatz und Behauptung, eine gewisse Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Das lyrische Ich tritt erst in der dritten Strophe an, um den Beweis für die oben aufgestellte Behauptung zu liefern. So lässt sich die vierte Strophe als empirische Materialsammlung im Rahmen der Beweisführung auffassen. Der geforderte "rechte Blick" wird hier genauer expliziert. Während in den ersten beiden Strophen die Heide aus der Ferne, gewissermaßen aus der Vogelperspektive betrachtet wurde, so wird der Blick im Verlauf des Gedichtes immer stärker auf das Detail gelenkt, das zu betrachtende Objekt sozusagen "herangezoomt". In der dritten Strophe betritt das lyrische Ich die Heide und in der vierten lässt es sich gar auf den Boden nieder und begibt so sich in Augenhöhe mit den Objekten, die es naturwissenschaftlich zu untersuchen gilt. Nachdem diese Voraussetzung erfüllt ist, enthüllen dem Betrachter in der fünften Strophe eine Fülle von Einzelbeobachtungen die Schönheit und Wunderhaftigkeit der Heide. Das so untersuchte Objekt besitzt nicht nur ästhetische Qualitäten, die Handschrift des Schöpfers zeigt sich nicht allein in einer äußeren Entsprechung von Makro- und Mikrokosmos, die in der letzten Strophe gezogene Folgerung, der Mensch (pars pro toto für die aufgeklärte (gläubige) Menschheit) solle in Zukunft die Heide nicht mehr betrachten, ohne dabei Gott zu loben und Freude über die Schöpfung zu empfinden, nährt sich vor allem aus der in den Zeilen 35-36 festgestellten Nützlichkeit der Heide. Während die ästhetischen Reize noch subjektiv von einem lyrischen Ich wahrgenommen werden (obschon mit naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden wie einer Brennprobe (V.31)), so wiegt der utilitaristische Wert der Heide schließlich so hoch, dass ihm durch das unpersönliche "man" wieder eine objektive Allgemeingültigkeit zugesprochen wird. In der Lyrik Brockes kommen "Naturerscheinungen [nicht] um ihrer selbst willen vor, sondern verweisen auf den Schöpfer"6. Insofern bezeichnet Gerth dieses Verfahren Brockes' als allegorisierend7, wobei er diesen Begriff von der griechischen Bedeutung allegorein="anders oder bildlich sprechen" verstanden wissen möchte. Es darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass Brockes' explizite Allegorie (die spirituale Lesart der Naturphänomene wird explizit mitgeliefert) auf der literalen Ebene vor allem ein realistisches Beschreiben der Natur aus dem Geiste der naturwissenschaftlichen Empirie ist. Der sensus literalis ist dabei aber dem sensus spiritualis (dem Lob Gottes) nicht untergeordnet und genau diese Tatsache unterscheidet die (früh-)aufklärerische Naturauffassung von der des Barock. Das Diesseits ist kein auf dem Weg zu Gott zu durchquerendes Jammertal mehr, das dem Menschen stets seine eigene Vergänglichkeit vor Augen hält, und so gilt es auch nicht mehr die Natur in eschatologischen Allegorien darzustellen. Voraussetzung hierfür ist ein neuer, philosophischer Gottesbegriff. Gott ist in den Gedichten Brockes' vorausgesetzt, es handelt sich bei ihnen nicht um lyrische Gottesbeweise. Der Deismus der Aufklärung, die Vorstellung eines Uhrmacher-Gottes8 ermöglicht dieses, in Brockes' Gedicht "Die Heide" angesprochene "neue Sehen - denn um ein solches handelt es sich gerade in poetischer Hinsicht - [das] sich als Folge der wissenschaftlichen curiositas, die nun vom Makel der Hybris befreit ist [darstellt]."9 Der aufklärte Mensch wähnt sich in der besten aller möglichen Welten. Dieser wissenschaftliche Blick auf die Natur erlaubt es aber gerade nicht, die Heide in Brockes' Gedicht als Landschaft darzustellen. Vielmehr handelt es sich um den Prototyp einer Heide, um die Repräsentation der Heide an sich, der alle spezifischen landschaftlichen Merkmale wie Wetter, Geräusche oder Ortsangaben zur Position des lyrischen Ichs fehlen. "Entsprechend wird in diesem Gedicht die Heidelandschaft nicht als Ganzes wahrgenommen. Vielmehr tritt sofort das Phänomen des Heidekrauts in den Interessentenkreis.10" So wird die Natur, von Brockes rational, wissenschaftlich erfasst, auch nicht zum Ort eines seelischen Erlebens des lyrischen Subjekts. "Die Heide ist kein symbolischer Daseinsraum"11, sie besitzt überhaupt keine räumlichen Qualitäten. Vielmehr ist sie Objekt eines vernunftgesteuerten Betrachtens, das nicht zu emotionaler, selbstreflexiver Kontemplation führt, sondern aus empirischen Wahrnehmungen logische Schlussfolgerungen zieht. Die Naturlyrik der Aufklärung
unterscheidet sich somit von der vor und nach ihr liegender
Epochen durch den ihr eigenen empiristischen Blickwinkel.
Während das Barock von einem allegorisch, transzendenten
Naturbegriff geprägt ist, wird die Natur in der Geniezeit
und Romantik zunehmend als subjektiver Erfahrungsort, der als
äußerer Raum die Projektion von innerseelischen
Vorgängen und Emotionen eines empfindlichen Gemütes
ermöglicht, dargestellt. In diesem Zusammenhang kann Brockes
Naturlyrik für sich in Anspruch nehmen die mimetischste zu
sein. Wilhelm Lehmann: "Signale" (1942)"Naturmagische Schule"Wilhelm Lehmann (1882-1968) gilt neben Oskar Loerke als wichtigster Vertreter und Mitbegründer der sog. naturmagischen Schule innerhalb der nichtexpressionistischen modernen Naturlyrik. Im naturmagischen Gedicht wird die Natur (oft über Verfahren der Mythologisierung) vom historisch Gesellschaftlichen getrennt als von diesem unverdorbener Bereich dargestellt. Wie kein anderes prägt das Thema Natur die Lyrik der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts.12. Das Gedicht "Signale" erschien erstmals in dem Gedichtband Der grüne Gott 1942. Interpretation des GedichtsDas Gedicht ist in zehn Strophen bzw. neun Strophen und einen allein stehenden Endvers aufgeteilt. Die Strophen eins bis sechs bestehen jeweils aus vier Versen, die Strophe sieben aus zwei, die Strophe neun aus fünf Versen. Formal scheint so dem inhaltlichen Aufbau Rechnung getragen zu werden, denn in den Strophen eins bis sechs vollzieht sich eine Entwicklung, als deren Höhe- bzw. Wendepunkt die siebte Strophe des Gedichts fungiert. Die Verse der ersten Strophe werden fast wörtlich in den Versen der achten Strophe in Fragesätze überführt, auf die der letzte Vers des Gedichtes antwortet. Das Reimschema der Strophen ist ebenfalls nicht einheitlich. Die Strophen eins bis vier folgen dem Schema abca, die Verse der fünften Strophe sind paarweise gereimt, die sechste Strophe fügt sich wieder in das Schema der ersten Strophen ein, das unterbrochen von der paarweise gereimten Strophe sieben auch in der achten Strophe wiederkehrt. Fasst man die Verse der neunten Strophe und den letzten Vers des Gedichtes zu einer Strophe zusammen, so lässt sich das Reimschema dieser Strophe mit abbcca angeben. Die Signale, von denen das Gedicht spricht, finden sich auch onomatopoetisch umgesetzt. Der Text ist durch Assonanzen (z.B. V.3 fernen Meeren - V.4 Gesprengter, V.9 Girren - V.10 schwirrt, V.14 Roncevalles - V.15 Woran), Alliterationen (V.1 Seewärts - Signale, V.23 zucken - V.24 Kukuckszehen) und Vokalhäufungen (z.B. V.27 Ob - V.28 Torpedos - V.29 Ohr - V.30 Todesschrein) lautmalerisch komponiert. In diesem Zusammenhang kann auch Strophe acht als akustisches und visualisiertes Echo (vgl. V.16) auf die erste Strophe des Gedichts verstanden werden. InhaltDas Gedicht "Signale" mag für die Lyrik Wilhelm Lehmanns insofern zunächst untypisch wirken, als der Autor als Paradebeispiel für die sog. innere Emigration13 deutscher Dichter unter der Herrschaft der Nationalsozialisten gilt, in dessen Gedichten die Natur als zeitloser, magisch-mythischer Erfahrungsraum dem Wirklichkeitszerfall der technisch-industriellen Moderne entgegengesetzt wird. Diese Art der Naturlyrik wird von Brecht schon 1938, vier Jahre vor Erscheinen des Lehmannschen Textes, in seinem Gedicht "An die Nachgeborenen" problematisiert, in dem es heißt "Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!14, auf das Paul Celan später mit dem Gedicht "Ein Blatt"15 antwortet und darin die Brechtsche Frage noch um ein sprachreflexives Moment erweitert. Auch der berühmte Satz aus Theodor W. Adornos Essay "Kulturkritik und Gesellschaft" von 1951, der später verkürzt als Adorno-Verdikt seinen Eingang in die Literaturgeschichte gefunden hat, "nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben16" muss vor dem Hintergrund der eskapistischen Tendenzen der Lyrik seiner Zeit betrachtet werden. Auf den ersten Blick scheint dem Gedicht "Signale" die kritisierte Realitätsflucht und Zeitenthobenheit nicht zu eignen. Die Torpedos, die auf fernen Meeren eingeschossen werden (V.2-3), die gesprengten Leiber (V.4), Granaten und Schrapnells (V.36) evozieren ein historisch einordbares Kriegsgeschehen. Diesen Signalen des Krieges, die das lyrische Ich in der ersten Strophe vernimmt, wird in der zweiten Strophe die Natur antithetisch gegenübergestellt: der Märzwind ergreift das wandernde lyrische Ich, das auf diesen aufsteigt und auf seinem Rücken ruht (V.5-8). Hier wird bereits angedeutet, dass das Überwinden [sic!] der faktisch-historischen Realität sich im Gedicht vollzieht, indem an die Stelle der von Tod und Zerstörung gezeichneten Realität ein poetischer, mythisierter17 und somit ahistorischer Naturraum tritt. Dieser wird in Strophe drei erweitert: das Bild vom Mutterschaf, das sein erstes Lamm säugt, evoziert eine anakreontische Idylle18, in der Menschengemachtes hinter die Natur zurücktritt (der Kleinbahndamm (V.10 Hervorhebung D.R.) wird zum pittoresken Hintergrund, vor dem ein Rebhahn "schwirrend" "girrt" (V.10-11)). Die dritte Strophe setzt mit der Frage ein 'Hör ich noch die Signale rufen?', die rückblickend auf die vorhergehenden Strophen als rhetorisch aufgefasst werden kann, da das lyrische Ich in der dritten Strophen das leise 'Girren' eines Rebhahns akustisch wahrnimmt und etwaige Explosionsgeräusche der in der ersten Strophe evozierten Kriegshandlung ausgeblendet, vom lyrischen Ich auf dem Ritt auf seinem 'Windpferd' (V. 19) hinter sich gelassen worden sind. Roncevalle ist das Dorf in den Westpyrenäen (vgl. V.21), in dem die Nachhut Karls des Großen 778 von den (heidnischen) Basken geschlagen wurde und wo Roland, der Neffe Karls des Großen und Held des Rolandliedes im Verlauf dieser Auseinandersetzung fiel. In der fünften Strophe hält das lyrische Ich auf seinem Ritt inne, um diesen 'süßen Augenblick' (V.17), nämlich den der verstummten bzw. gewandelten Signale, zu genießen und lässt dabei sein Ross in einer abermals idyllisch, mit exemplarischen Vertretern der Flora und Fauna ausgestatteten und in ihrer Banalität diesmal fast unfreiwillig ironisch-komisch anmutenden Naturlandschaft grasen: "Die Zügel häng ich ins Genick / Dem Windpferd, daß es schweifend grase. / Huflattich blüht, es springt der Hase" (V. 18-20). Der von Lehmann entworfene naturmagische Erfahrungsraum ist aber nicht nur von 'realen Lebewesen' der Flora und Fauna bewohnt, dem Mythos verpflichtet führt der Autor in Strophe sechs auch noch einen 'Erdgeist' (V.22) ein. In der gleichen Strophe wird auch der Kuckuck erwähnt, bei dem es sich um eine wichtige poetologische Metapher handelt, die ihre Bildspender aus den unterschiedlichsten Bereichen bezieht. Zunächst ist der Kuckuck so wie die bereits erwähnten Vertreter aus Flora und Fauna ein biologischer Repräsentant der belebten Natur. Darüber hinaus verweist er als Vogel des Merlin auf den keltischen Mythos und wird durch seinen in nahezu allen Sprachen onomatopetischen Namen zum Inbegriff eines naturmagischen Sprechens, das in der Tradition der Signaturenlehre eines Jakob Böhme steht, die von einer durch Sündenfall verloren gegangenen Ursprache ausgeht, in der Bezeichnendes und Bezeichnetes eins und somit schöpferisches Gotteswort waren. Die okkulte, sprachmagische Tradition beruft sich dabei auf den biblischen Schöpfungsbericht. Die adamitische Sprache, die verlorene Ursprache des Paradieses, trug in sich auch den ursprünglichen logos weiter, den Akt der Schöpfung durch das Wort, mit dem Gott die Welt "ins Sein gesprochen hatte19". Die Sprache Edens enthielt eine göttliche Syntax, die Macht des Setzens und Benennens analog zu Gottes eigener Diktion, in der das bloße Benennen von etwas ausreichend war, um es in die Realität zu versetzen. Jeder menschliche Sprechakt vollzog den nominalistischen Mechanismus der Schöpfung nach, "denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen" (1 Moses 2.19). Lehmann knüpft hier an eine spätestens seit der Romantik weit verbreitete Vorstellung an, die davon ausgeht, dass diese verlorene Sprache Gottes sich jedoch noch in der Schöpfung manifestiert, in der Natur, die als nicht mehr zu deutende Hieroglyphe im empfänglichen Gemüt des Gläubigen und Dichters eine Ahnung jener verlorenen, göttlichen Ursprache weckt.20 So trägt der Gedichtband, in dem das Gedicht "Signale" erscheint bezeichnenderweise den Titel Der grüne Gott, in dem sich die pantheistische und romantische Vorstellung der Natur als Lesebuch Gottes ausdrückt. Das lyrische Ich in Lehmanns Gedicht "Signale" trennt die Signale, seine akustischen Wahrnehmungen von ihren arbiträren, verderbten Signifikaten und stellt diese statt dessen in einen höheren, mythisch-poetischen Bedeutungsrahmen, der, so die sprachmagischen Vorstellungen in der Tradition Böhmes und Hamanns21, eine Ahnung von jener adamatischen Sprache aufkommen lässt. Der Dichter, Wilhelm Lehmann, nähert sich dieser Sprache im Gedicht, indem er wie Walter Benjamin in seinem Übersetzer Aufsatz sagt: sich "der Art des Meinens des Originals [das ist hier die "Sprache" der Natur] in der eigenen Sprache anbildet"22, was sich auf der lautlichen Ebene vollzieht. Lehmann stellt seine Signifikanten also einerseits in einen onomatopoetischen Verweisungszusammenhang unterhalb der Ebene der Signifikate, ordnet ihnen aber gleichzeitig eine Reihe von sich überlagernden, topischenmyhischen und intertextuellen Bedeutungen zu (vgl. hierzu z.B. die oben erwähnte Bedeutung des Lamms oder die vielfältigen mythologischen Bedeutungen des Kuckucks). Dass dieser Rückzug aus der historischen Realität in eine mytho-poetische, zeitlose Natur durchaus treffend als innere Emigration bezeichnet wird, macht die neunte Strophe des Gedichts deutlich. Die Fragen der achten Strophe, ob von dem in der ersten Strophe beschriebenen Kriegsgeschehen noch etwas zu hören sei, wird mit dem letzten Vers "Granaten und Schrapnells verzischen" (V.36) beantwortet. Die dazwischen situierte neunte Strophe liefert die Voraussetzung für das Verstummen der Geschosse: "Tief innen" (V.31) hebt ein Gesang an, der so mächtig ist, dass er bereits "Thebens Mauern baute" (V.32) und so auch in der Lage ist, zu "heilen", d.h. die historische Faktizität hinter einer zeitlosen, idyllischen Natur verschwinden zu lassen. Diese neunte Strophe beschreibt in nuce die Lehmannsche Poetologie, das poetische Verfahren der Realitätsflucht des gesamten Gedichts. Ob dieses Verfahren glückt muss gerade vom
heutigen Leser angezweifelt werden. Der Ruf des Kuckucks vermag
nicht mehr zu heilen, denn dieses "Heilen" kann seiner ihm
aufgeladenen historischen Konnotationen kaum mehr entledigt
werden. Einerseits klingt in ihm das Kinderlied "Heile, heile
Gänschen" mit an, was Lehmanns Versuch der mytho-poetischen
Realitätsüberwindung als kindlich naiven Wunsch
erscheinen läßt, zugleich weckt ein dreimal emphatisch
wiederholter Ruf nach "Heil" in einem Text von 1942
natürlich schwerwiegendere Konnotationen. Lehmann war auch
nach dem Krieg noch von seiner poetischen Vorgehensweise
überzeugt, Sprache unbelastet verwenden zu können. Auch
für Paul Celan blieb die Sprache "unverloren [...] trotz
allem"23, wie es
in seiner "Ansprache anlässlich der Entgegennahme des
Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen" heißt, er
hatte aber im Gegensatz zu Lehmann erkannt, dass die Sprache
"durch die tausend Finsternisse todbringender Rede" hindurchgehen
musste, um "wieder zutage zu treten "angereichert" von all dem."24 Diese
Anreicherung, Kontaminierung der Sprache kann durch keinen
Kuckucksruf mehr "geheilt" werden. Entsprechend urteilt auch
Klaus Gerth über das Gedicht "Signale" von Wilhelm
Lehmann:
Primärtexte Anmerkungen:1Vgl. Grimm, Gunter E.: Deutsche Naturlyrik. Vom Barock bis zur Gegenwart. Stuttgart 1995. S. 494 3Als Physikotheologie bezeichnet man eine Art
‚theologische Naturwissenschaft', die sich von England
ausgehend im 18. Jahrhundert in ganz Europa etabliert. Die Natur
wird als zweite Offenbarung (neben der Bibel) des Schöpfers
aufgefasst, die es lesen und auszulegen gilt. Aus den
naturwischamtlichen Betrachtungen so unterschiedlicher
Naturphänomene wie Gewittern, Erdbeben bis zu hin zu
detaillierten Beobachtungen von Flora und Fauna leiten
Physikotheologen in umfangreichen Abhandlungen Gottesbeweise (und
-lehren ) ab. 6Gerth, Klaus: "'Ein Gespräch über Bäume.' Natur und Lyrik." In: Ethik und Ästhetik. Werke und Werte in der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Festschrift für Wolfgang Wittkowski zum 70. Geburtstag. Hg. v. Richard Fischer. Frankfurt am Main u.a. 1995.(=Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Band 52). S. 582. 8Der Deismus ist eine in der Aufklärungsphilosophie verbreitete Form der philosophischen Gotteslehre, die davon ausgeht, dass Gott die Welt perfekt geschaffen hat, aber in Natur und Geschichte nicht eingreift. 12Zu der durch die Poetologie Lehmanns angeregten "naturmagischen Schule", Elisabeth Langgässer spricht sogar von einer "Lehmann Schule", gehören neben letzterer auch Karl Krolow, Peter Huchel, Günther Eich, Heinz Piontik, Oda Schäfer u.a. 13Vgl. Ketelsen, Uwe-K.: "Natur und Geschichte - Das widerrufende Zeitgedicht der 30er Jahre. Wilhelm Lehmann: 'Signale'. In: Norbert Mecklenburg (Hg.): Naturlyrik und Gesellschaft. Stuttgart 1976. 14Brecht, Berthold: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. 6 Bde. Bd. 3: Gedichte I. Frankfurt a. M. 1997.S. 349. 15EIN BLATT, baumlos, 16Adorno, Th. W.: "Kulturkritik und Gesellschaft". In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Hg. v. R. Tiedemann. Frankfurt a. M. 1977. S. 30. 17Die Flügelschuhe (V.6) sind die Attribute des Götterboten Hermes bzw. Merkur. Daneben finden sich auch etliche Bezüge zur germanischen Mythologie; so wird Wotan als Wanderer bezeichnet, das Windpferd weist auf die Wallküren hin, die gefallene Krieger nach Walhall bringen. 18In diesem Bild überlagern sich mehrere Bereiche. Neben der paganen, anakreontischen Tradition ist das Lamm auch als christliches Motiv relevant (Christus als Oster-Lamm (1 Kor 5,7); Gott als Hirte (Psalm 23) u.a.m.). 19Steiner, George: After Babel. Aspects of language and translation. Oxford 31998. S. 60. 20Diese sprachmagischen Vorstellungen finden z.B. in der
Metapher des in allen Dingen schlafenden Liedes in Joseph von
Eichendorffs Gedicht "Wünschelrute": 21Vgl. Hamann, Johann Georg: Aesthetica in nuce. RUB 926. 22Benjamin, Walter: "Die Aufgabe des Übersetzers". In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. Frankfurt a. M. 1977. S. 59. 23Celan, Paul: Gesammelte Werke. Bd. 3. S. 185. 25Gerth, Klaus: "'Ein Gespräch über Bäume.' Natur und Lyrik." In: Ethik und Ästhetik. Werke und Werte in der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Festschrift für Wolfgang Wittkowski zum70. Geburtstag. Hg. v. Richard Fischer. Frankfurt am Main u.a. 1995.(=Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Band 52). S. 588. |